Zu Nietzsche und Jünger



  1. Dionysos und Baal
  2. Ein Schlaglicht auf das Übermenschkonzept Nietzsches
  3. Die Verflüssigung des Selbst
  4. Friedrich Georg Jünger – Die Spiele
  5. Kunst, von außen betrachtet
  6. Der Literat als Handwerker und der Bürger als „blonde Bestie“; Gedanken zu Thomas Manns „Tonio Kröger“


Dionysos und Baal

Das Zwanzigste Jahrhundert sah zu seinem Beginn eine die Jugend Europas erfassende Begeisterung für den kürzlich verstorbenen und zu seinen Lebzeiten weitgehend unbekannten Friedrich Nietzsche. In weiterer Folge übte der „Dichter-Philosoph“ für die nächsten Jahrzehnte einen großen Einfluss auf die europäische und nordamerikanische Intelligenz aus.
Es ist daher nicht überraschend, dass auch Bertolt Brecht in seinen frühen Jahren mit der Philosophie Nietzsches in Berührung kam.
Unerwarteter kommt da schon die These Christof Šubiks, die er im ersten seiner vier Versuche über die Philosophie Bertolt Brechts „Einverständnis, Verfremdung und Produktivität“1 aus dem Jahre 1982 entwickelt:
Brecht sei nicht in erster Linie Dramatiker und Lyriker, sondern Philosoph gewesen. Sein umfangreiches literarisches Schaffen sei demnach nur in Hinblick auf seine Philosophie in seiner ganzen Bedeutung zu fassen. Seine Philosophie wiederum hätte ihre – aus guten Gründen verschwiegenen – Wurzeln im Denken Friedrich Nietzsches.
In seinem Früh- und Erstlingswerk „Die Geburt der Tragödie“ aus dem Jahre 18722 stellt Nietzsche die „ästhetische“ und „tragische“ Weltbetrachtung als Alternative zum gerade auch in ästhetischen Fragen durch Rationalität geprägten Blick der Moderne auf die Welt heraus. Dieser rationale Blick hat, nach Nietzsche, seinen Ursprung in den Lehren des Sokrates. Doch eines nach dem anderen:

Aus der urwüchsigen Einheit des Menschen mit der „chthonischen“3 Natur, wie Camille Paglia in ihrem Hauptwerk „Masken der Sexualität“ in Anlehnung an Nietzsche schreibt, befreit ersterer sich durch das „principium individuationis“: Die Dinge wie auch die Personen werden streng umgrenzt; sie erhalten als Einzelne Realität durch ihre äußere Form. Die Griechen – in vielerlei Hinsicht, als Erste, als Vollendetste, als Lehrmeister, exemplarisch – personifizierten dieses ästhetische Prinzip im dorischen Sonnengott Apoll. Viel chthonischer Schatten erfordert – um ihn vergessen zu machen – viel apollinisches Licht. Die in besonderer Weise auf Schönheit, Oberfläche und männliche Tugend Wert legende griechische Kultur erlebte auch den Andrang der chthonischen (von Paglia, wohl auch von Nietzsche als weiblich vorgestellten) Natur auf besonders intensive Weise, so die These Nietzsches. Im Sinne dieser Dialektik von Erdverbundenheit und Kult des Lichtes, also des Auges und des Scheins, ist auch einer der Kernsätze in der „Geburt der Tragödie“ zu verstehen: [...] nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt [...]. Denn: Könnten wir uns eine Menschwerdung der Dissonanz denken – und was ist sonst der Mensch? – so würde diese Dissonanz, um leben zu können, eine herrliche Illusion brauchen, die ihr einen Schönheitsschleier über ihr eigenes Wesen decke. (Nietzsche: Geburt der Tragödie. § 26)
Die bildende Kunst, aber auch die Welt der Begriffe und das Bewusstsein sind das Reich Apolls. Sein Attribut ist, nach Paglia, der Blick. Dieser kalte, taxierende Blick trifft auf die Oberfläche streng begrenzter Objekte. Das ist Ästhetik. In diesem Sinne ist Ästhetik objektiv.
Doch die Welt des Scheines, der Ordnung und der Schönheit kann niemals die Herkunft des Menschen aus und sein letztendliches „Verhaftetsein“ in der Natur völlig vergessen machen. In der Gestalt des Dionysos, dessen Ursprung, wie man sinnigerweise annimmt, vor die Genese der griechischen Kultur datiert, und in seinem Kult kommt die ursprüngliche Wildheit der Natur wieder zu ihrem Recht. Dionysos war nicht nur der Gott des Weines und des Rausches, er war auch der Gott der Verwandlung. In ihm löst sich das streng begrenzte Objekt auf und verliert sich im Unbegrenzten, im Alles.
Ganz von Schopenhauer geprägt identifiziert der Nietzsche der „Geburt der Tragödie“ den „Willen“ als eigentliche Triebfeder des Lebens. Dionysos, dessen Kunstform die Musik ist, die wiederum direktes Abbild des Willens (nicht nur Abbild der Erscheinung des Willens in der Form, in der beispielsweise ein Bildhauer ein Individuum abbildet) ist, steht für dieses Ursprünglichste. Er personifiziert, wie Paglia sagt, [...] die allumschließende Totalität des Mutterkults. (Camille Paglia. masken der Sexualität. S 123 Dem Gegensatz von Dionysos und Apoll entspricht, so glaube ich mit Paglia (und wohl auch Nietzsche), der Gegensatz von weiblich und männlich.
Das Leben ist sich selbst genug. Die chthonische Natur, die große Mutter, in ihrer Dreieinigkeit von Wahn, Wille, Wehe (Nietzsche. Geburt der Tragödie. § 20), schert sich nicht um Dasein und Wohlergehen des Einzelnen. Im Kult des Dionysos entgrenzt sich der Einzelne und wird auf dem Weg des Rausches wieder eins mit dem Allumfassenden, hört damit aber auf, ein Ich zu sein.
Im Rahmen der religiösen Feste zu Ehren des Dionysos wird das Individuum, also die, nach Nietzsche, bloße Erscheinung des Willens, in Gestalt eines Tieres von den Anhängerinnen des Gottes zerrissen, nihiliert. Auch die griechische Tragödie, die ursprünglich zu Ehren des Dionysos als Weihespiel aufgeführt wurde, feiert den Untergang des tragischen Helden. Indessen wird durch den Untergang der bloßen Erscheinung des Willens in den Strömen der fließenden ewigen Natur durch ihr zerstückelndes, zersetzendes, zermahlendes Wirken, ihrer Verflüssigung aller Materie zu jener dicken Ursuppe, aus der neue, nach Leben gierende Formen springen (Paglia, S 47), das ewige Leben des Willens (Geburt der Tragödie. § 16) als Triebfeder dieser Natur nicht berührt. Die Tragödie ist, nach Nietzsche, eine metaphysische Tröstung dahingehend, dass das Leben im Grunde der Dinge, trotz allem Wechsel der Erscheinungen unzerstörbar mächtig und lustvoll [...] [ist]. (Geburt der Tragödie. § 7)
Dennoch drückt sich alles in der Tragödie, auf der Bühne, im Theater, durch die Schauspieler, die scharf umrissene, dem Prinzip des Blickes und des Scheins entsprechende Holzmasken, die bekannten „personae“ tragen, auf apollinischem Wege aus. Wie Nietzsche auch schon für die Gestalt des Lyrikers, der für ihn quasi ein dionysischer Ästhet, ein Zwischen- und Mischwesen ist, diesen Sachverhalt beschrieben hat: Im Dichter sprüht das Dionysische apollinische Bilderfunken.
Damit komme ich zur Hauptthese Nietzsches in der „Geburt der Tragödie“: Die Tragödie ist eine gelungene Verbindung der beiden künstlerischen Hauptströmungen, mehr noch: der beiden Prinzipien der Weltbetrachtung, die sich in Dionysos und Apoll personifizieren lassen. Sie ist die gelungene Verbindung dieser beiden Götter und hatte in ihrer hohen Zeit im fünften Jahrhundert vor Christus eine dem Nihilismus vorbeugende Wirkung.
Denn durch das Überhandnehmen des Bewusstseins für das Ausgeliefertsein an die chthonischen Mächte der Natur ist der Mensch in Versuchung, angewidert das Leben zu verneinen, wie es Nietzsche für die indische Kultur postuliert. Erst durch die Maskierung des Dionysischen durch apollinischen Schein wurde das Wahn, Wille, Wehe des Lebens für die Griechen erträglich.
Weder in der Selbstauslöschung des Dionysos, noch in der Objektivierung des Apoll kommt dem Menschen die Rolle eines selbstständig Handelnden und eines sich enzwickelnden individuellen Charakters zu.
Die Sicht auf den Menschen, als ein (partiell) von der Natur gesonderter, selbstständiger und selbstherrlicher Akteur, ist Folge einer Entwicklung, die Nietzsche mit Sokrates beginnen lässt.
Er heißt sie nicht gut.

Im selben Maße, in dem Nietzsche die von ihm in der „Geburt der Tragödie“ entwickelten Ideen weiterentwickelt, zuspitzt und radikalisiert (dass er das tut, dass sich eine gedankliche Linie von der „Geburt der Tragödie“ bis zum „Antichristen“ und zum „Ecce Homo“ zieht, wurde beispielsweise von Thomas Mann in seinem Essay „Nietzsche's Philosophie im Lichte unserer Erfahrung“4 ausgeführt und ich schließe mich seiner Meinung an), werden auch die Angriffe gegen die Idee einer Sonderstellung des Menschen und gegen ihre Vertreter schärfer.
Durch das Wirken des Sokrates und seines, von Nietzsche als solchen identifizierten, Anhängers, des Tragödiendichters Euripides, im Athen des vierten Jahrhunderts vor Christus wurde, nach Nietzsche, die Tragödie als gelungene Verbindung von dionysischer Verneinung des Einzelnen und Verehrung der chthonischen Natur und befreiendem apollinischen Schein zerstört.
Durch die Betonung der Erkenntnisfähigkeit des Einzelnen und der Forderung nach der Herausbildung eines kritischen Bewusstseins überkommenen Vorstellungen gegenüber problematisierte Sokrates die Bewusstlosigkeit und gleichzeitige Instinktsicherheit seiner Mitbürger im Urteilen und Handeln.
Als sein Schüler versuchte Euripides, wie Nietzsche schreibt, das ethische Programm des Sokrates, nach dem nur der Wissende tugendhaft sei und, was wie ich meine, vielleicht noch wichtiger ist, seine Vorstellungen vom Menschen als selbstständiger und selbstherrlicher Akteur in der Welt, der die Fähigkeit besitzt, sich von Dionysos zu emanzipieren, auf die Kunst zu übertragen.
Ergebnis dieses neuen Kunstverständnisses war der von Nietzsche so genannte ästhetische Sokratismus (Geburt der Tragödie. § 12). Die Kunst wird persönlich, das Subjekt tritt mit Sokrates wie in der Philosophie, so auch im griechischen Theater in Erscheinung: auf der Bühne halten kühle paradoxe Gedanken – anstelle der apollinischen Anschauungen – und feurige Affekte – anstelle der dionysischen Entzückungen (Geburt der Tragödie. § 12Einzug.

Bevor nun die Rede auf Brechts „Baal“ und seine Identität mit Dionysos kommt5, möchte ich, wohl meiner (wie ich zumindest glaube) spezifisch christlichen Sicht geschuldet, folgende Vermutung in den Raum stellen:
Ich vermute, dass der Kampf gegen die Vorstellung vom freien autonomen Individuum als eine Entartungsform des Apollinischen, gleichzeitig, wie es der frühere Ernst Jünger ausdrückt, als Hochverrat des Geistes gegen das Leben (Ernst Jünger. Der Arbeiter. S 40), also als Versuch, sich der Macht des Dionysos zu entledigen, der gedankliche rote Faden ist, den Thomas Mann im oben erwähnten Essay im Denken Nietzsches postuliert. Auch und gerade seine späteren Angriffe gegen das Christentum und die zentrale Wichtigkeit, die es dem Einzelnen als einem durch seinen freien Willen Verantwortlichen, als auch durch seine Vorstellung von einem persönlichen, gleichzeitig allmächtigen Gott zuweist, gehören, wie ich glaube, zu dieser gedanklichen Linie.
Im Vorwort der „Geburt der Tragödie“ in der überarbeiteten Version von 1886 („Versuch einer Selbstkritik“) spannt Nietzsche selbst den gedanklichen Bogen zurück, wenn er über den Terminus „dionysisch“ referiert: Als Philologe und Mensch der Worte taufte ich [...] [meine Philosophie], nicht ohne einige Freiheit, denn wer wüsste schon den rechten Namen des Antichrist? – auf den Namen eines griechischen Gottes: ich hieß sie die dionysische. (Nietzshe)
In einer (für mich) zentralen Stelle im „Antichristen“, geschrieben 1888, heißt es über den Charakter des Christentums:
‚Eins ist noth‘... Dass Jeder als ‚unsterbliche Seele‘ mit Jedem gleichen Rang hat, dass in der Gesammtheit aller Wesen das ‚Heil‘ jedes Einzelnen eine ewige Wichtigkeit in Anspruch nehmen darf, dass kleine Mucker und Dreiviertels-Verrückte sich einbilden dürfen, dass um ihretwillen die Gesetze der Natur beständig durchbrochen werden – eine solche Steigerung jeder Art Selbstsucht ins Unendliche, ins Unverschämte kann man nicht mit genug Verachtung brandmarken. (Nietzsche. Der Antichrist. § 43)

In einer Szene der Baal-Fassung von 19186 kommt es zum symbolträchtigen Aufeinandertreffen des Baal (lies, in Anlehnung an die Thesen Šubiks: des Dionysos) mit einem Priester. Der Geistliche macht Baal seine fehlende apollinische Begrenztheit zum Vorwurf: Meine Seele ist das Sonnenlicht, das im Diamanten bleibt, wenn er in das unterste Gestein vergraben wird. Und der Trieb zum Blühen der Bäume im Frühling, wenn noch Frost ist. Und das Ächzen der Kornfelder, wenn sie sich unter dem Wind wälzen. Und das Funkeln in den Augen zweier Insekten, die sich fressen wollen. (Brecht: Baal) Ganz im Sinne Nietzsches erscheint für Baal die spezielle Form des Apollinischen im Wertekanon des Christen als Anmaßung: Ich bin demütiger als Sie.
Wir sind nun auf der Spur des „Einverständnisses“ als einer der von Šubik postulierten Grundlagen der brechtschen Philosophie.
Auf die Figur des Baal wirkt das ganze Stück hindurch nicht nur eine unbändige Kraft, von der die blassen Nebenfiguren, mit ihren vom Ideal des bürgerlichen Individuums, seiner Freiheit der Natur gegenüber und seiner Rationalität vor allem, geprägten Vorstellungen nichts ahnen, auch Baal selbst ist diese Kraft.
Das Fressen, die Gier nach Mehr, der Wille zur Macht also, ist auf den verschiedensten Ebenen seine große Leidenschaft und Ausdruck seiner, am Ende seine eigene individuelle Existenz verneinenden, grundsätzlichen Lebensbejahung.

Exemplarisch möchte ich im Folgenden kurz für mich im obigen Sinne besonders auffällige Stellen anführen und gegebenenfalls auf inhaltliche Parallelen, zum Teil sogar sprachliche Entsprechungen in den Schriften Nietzsches hinweisen.
In der zweiten Szene der Baal-Fassung von 19227 entspinnt sich ein Dialog zwischen Baal und dem idealistisch gesinnten jungen Dichter Johannes. Der junge Freund des Baal bittet ihn um Rat in Fragen der Sexualität. Seine junge Freundin Johanna wird übrigens später ein Opfer der unersättlichen Gier Baals. Im Gespräch über die junge Frau in dieser Szene kommt zum ersten Mal der geradezu anti-apollinische Charakter des Helden des Stückes zum Ausdruck: Sie hat weiße Wäsche um ihren Leib, ein schneeweißes Hemd zwischen den Knien? Wenn du sie beschlafen hast, ist sie vielleicht ein Haufen Fleisch, der kein Gesicht mehr hat. Weit entfernt davon „Sexualobjekt“, also beständig in Form und Eigenschaft zu sein, wird die konkrete junge Frau zu einer andrängenden Kraft, die jedoch, nachdem man ihr nachgegeben hat, ihre Stärke augenblicklich verliert.
Meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat diese Szene auf Grund einer beinahe wortwörtlichen Übereinstimmung mit einer Passage aus Nietzsches „Zur Genealogie der Moral“, die in der von mir als erstes gelesenen Fassung von 1918 (s.o.) so nicht zu finden ist. Als Johannes das obige Zitat als Aufforderung zur Enthaltsamkeit zugunsten der apollinischen Integrität seiner jungen Freundin ausdeutet, widerspricht Baal (mit Nietzsche) auf das Schärfste: Das ist das Geschrei der Schweine, denen es nicht gelingt. Fast wortwörtlich findet sich in der dritten Abhandlung der „Genealogie“ über die Bedeutung der asketischen Ideale der Satz Baals wieder: [...] daß, wenn einmal die verunglückten Schweine [(also die, ‚denen es nicht gelingt‘)] dazu gebracht werden, die Keuschheit anzubeten – und es gibt solche Schweine! –, sie in ihr nur ihren Gegensatz, den Gegensatz zum verunglückten Schwein sehn und anbeten werden – o mit was für einem tragischen Gegrunz und Eifer! (Zur Genealogie der Moral. Dritte Abhandlung. § 2).

In einer Szene in der Baal-Fassung von 1918, sie spielt in der Redaktionsstube einer Zeitung, als deren Redakteur Baal kurzfristig Arbeit findet, zeigt sich die Auflösung der Person durch das Handeln des dionysischen Helden von Brechts Frühwerk in einer stärker geistigen Ausformung: Ein junger Lyriker stürmt in die Redaktion und stellt empört Baal zur Rede, der eines seiner Gedichte unautorisiert in Form und Sinn verändert und veröffentlicht hat. Auf die Anschuldigungen des Jünglings: Nicht eine Zeile, nichts mehr ist davon von mir! antwortet Baal: Aber doch, der Stoff doch!.
Das Konzept der Autorenschaft ist immer Ausdruck des Anspruchs auf Originalität und Individualität. Durch es wird sozusagen der Akteur über die Aktion gestellt. Dieses Konzept läuft einem (meiner Meinung nach) für seine Philosophie grundlegenden Postulat Nietzsches entgegen. Er formuliert es am eingängigsten in der „Genealogie“: [...] es gibt kein ‚Sein‘ hinter dem Tun, Wirken, Werden; der ‚Täter‘ ist zum Tun bloß hinzugedichtet – das Tun ist alles. (Zur Genealogie der Moral) Der Mensch als selbstständiger und selbstherrlicher Akteur ist für Nietzsche wie für Brechts Figur Baal reine Fiktion.

Als gegen Ende des Stückes die dionysische Kraft ein weiteres Mal auf Baal und durch ihn hindurch auf seine Umgebung eindringt, ersticht er seinen Freund Ekart im Rauschzustand und in der Auseinandersetzung um eine Frau in einer Branntweinschenke. Auf der Flucht kommt er schließlich in das Lager von Holzfällern, wo er schließlich (allem Anschein nach) verstirbt.
Unmittelbar nach der Szene in der Branntweinschenke spricht Baal einen Monolog und zitiert dabei eine Strophe des an den Anfang des Stückes gestellten „Chorales vom großen Baal“: Zu den feisten Geiern blinzelt Baal hinauf/Die im Sternenlichte warten auf den Leichnam Baal./Manchmal stellt sich Baal tot. Stürzt ein Geier drauf/Speist Baal einen Geier, stumm, zum Abendmahl.
Es erinnert diese Stelle, gerade auch auf Grund ihrer Stellung ganz unmittelbar vor dem unwürdigen und traurigen Ende der Gestalt des Baal zwei Szenen später, an die nietzscheanische These der metaphysische Tröstung durch die Tragödie (s.o.). Auch wenn die konkrete Gestalt aufhört zu sein, ist doch das dionysische Leben selbst, die chthonische Natur, für die wiederum die Figur des Baal steht, unzerstörbar. Mehr noch: Im Untergang des konkreten Individuums ist Lust.
Die Abwärtsbewegung in der Biographie der Hauptfigur des Stückes, die übrigens in der oben erwähnten Szene des Aufeinandertreffens Baals mit einem Geistlichen thematisiert wird, und sein „Einverständnis“, sein „Ja-Sagen“ und seine (wiederum aus meiner Sicht) Selbstverleugnung finden ihren End- und Höhepunkt in der letzten Szene des Stückes.
Völlig mitleidlos, dabei unwidersprochen von Baal, weigert sich die Gruppe von Holzfällern, zu der der gesuchte Verbrecher Zuflucht genommen hat, ihre dem Leben zugewandten Tätigkeiten, das Spielen und Trinken, auf Grund des Sterbens des Individuums Baal zu unterbrechen. Die nietzscheanische Tröstung fasst Brecht in folgende Worte und legt sie einem Holzfäller in den Mund: Habe keine Angst: Die Welt rollt weiter, kugelrund, morgen früh pfeift der Wind. Stelle dich doch auf einen etwas überlegeneren Standpunkt. Denke dir: Eine Ratte verreckt. Na also!
Dem auch für mich irgendwie nach Ironie riechenden (obwohl dies beim Schreiben eigentlich gar nicht beabsichtigt war) letzten Satz wird man meine persönliche Abneigung gegen die Urteile Nietzsches und Brechts bezüglich des sokratischen freien Individuums und seiner christlichen Sonderform anmerken. Keineswegs jedoch glaube ich, dass den Theorien Nietzsches über die Herkunft des Sokratismus und des Christentums aus dem Ressentiment widersprochen werden kann. Beide sind für mich, so wie letztendlich alle Kultur, ein Aufstand gegen die chthonische Natur und das Leben.

ad 1: Online verfügbar hier (12.09.2012).
ad 2: Mir vorliegend in der überarbeiteten Version von 1886 in: Rolf Toman (Hg.): Friedrich Nietzsche. Werke in drei Bänden. Bd. 1. Köln 1994.
ad 3: Camille Paglia benützt diesen Terminus in ihrem Hauptwerk „Die Masken der Sexualität“ (orig. „Suxual personae“), Berlin 1992 - Übersetzt bedeutet er „der Erde zugehörig“ – um die urwüchsige Natur und das ziellose Dahinströmen des Lebens, das die Existenz des einzelnen Individuums nicht achtet, zu bezeichnen. „Es ist die unmenschliche Grausamkeit der Biologie und Geologie, die Darwinsche Verschwendung und Blutrünstigkeit, der Schmutz und die Fäulnis [...].“ (Paglia. S 17). „Chtonios“ (der Unterirdische) ist auch einer der Beinamen des Dionysos.
ad 4: Mir vorliegend im Anhang meiner Zarathustra-Ausgabe: insel-taschenbuch 145. Darmstadt 1977.
ad 5: Diese These wird von Šubik in seinen Versuchen vertreten, nach Lektüre des „Baal“ kann ich mich ihm nur anschließen.
ad 6: Mir vorliegend in: Bertolt Brecht: Baal; Drei Fassungen. Kritisch ediert und kommentiert von Dieter Schmidt. 2. Auflage. Frankfurt am Main 1969.
ad 7: Mir vorliegend in: Werner Hecht u.A. (Hgg.): Bertolt Brecht: Berliner und Frankfurter Ausgabe; Stücke I; Frankfurt am Main 1989.


Ein Schlaglicht auf das Übermenschkonzept Nietzsches

[Der folgende Text entstand am 13. Juli 2011 als Nachtrag zu meinem Essay: "Skizzen zum Anarcho-Konservativismus. Nihilismus", in welchem ich versuchte, aus dem von Oswald Spengler entwickelten Gegensatzpaar „Takt und Spannung“ eine, meinem weltverneinenden, anarchistischem Pessimismus entsprechende Sicht auf die Welt abzuleiten.
Spengler war ein Schüler Nietzsches. Die spenglersche Sicht auf die Geschichte, als ein kosmischer Fluss und auf die historisch relevanten Persönlichkeiten als in ihren Entscheidungen und Urteilen ganz an diesem Fluss orientierten "Taktexistenzen", fußt zum größten Teil auf Nietzsches Ideal einer bedingungslosen Lebensbejahung, konkretisiert in der Gestalt des Übermenschen.]

Ich liebe den, welcher nicht einen Tropfen Geist für sich zurückbehält, sondern ganz der Geist seiner Tugend sein will: so schreitet er als Geist über die Brücke. (Also sprach Zarathustra. Vorrede; §4

Friedrich Nietzsche ist der Apologet des Taktes. Seine Philosophie ist uneingeschränkt welt- und lebensbejahend. In der von Nietzsche herbeigesehnten Welt hat jeder seinen natürlichen Platz, der ihm durch seine individuellen Taktstärke zugewiesen wird.

Das vielmissbrauchte Konzept „Übermensch“, es wird hauptsächlich in Nietzsches Hauptwerk „Also sprach Zarathustra“ entwickelt, beschreibt einen, nach Nietzsche, höheren Wesenstypus, der seinen eigenen Willen vollkommen durch die Ströme des kosmischen Taktes bestimmen lässt. Der Übermensch will nur, was er wollen soll. Doch nicht nach dem Willen eines Individuums, sondern nach dem Willen des „Lebens“, also des Taktes, richtet der Übermensch sein Wollen aus. Der "Wille zur Macht" des Übermenschen ist, aus Sicht der Spannung, der Wille zur Auslöschung des Ichs.

Daß dem Stärkeren diene das Schwächere, dazu überredete es sein Wille, der über noch Schwächeres Herr sein will: dieser Lust allein [zu befehlen so wie zu gehorchen] mag es nicht entraten.

Der Übermensch, er entspricht diesem Ideal zur Gänze, ist reiner Takt.
Der sogenannte Über-Mensch ist weniger als ein Tier, er ist eine Pflanze.

Wenn im zweiten Teil des Zarathustra „von den Taranteln“ gesprochen wird, bearbeitet Nietzsche damit den Hang der „Spannungsmenschen“ zur Herausbildung von ethischen Leitlinien für „tugendhaftes“ Handeln.
Völlig klar und richtig ist seine Beurteilung der Arbeit dieser Tugendtaranteln, dieser politisierenden Spannungsmenschen als ein sich nicht Einfügen-wollen in die kosmisch-unbewussten Machthierarchien. Diese Prediger der Gleichheit (zur Zeit Nietzsches waren die Linksanarchisten sehr umtriebig) sind für den Verteidiger von erspürten Machtstrukturen nur Rachsüchtige. Ganz offenkundig tritt hier die (von mir in der „negativen Direktive“ umrissene) Machtproblematik zu Tage. Für den Apologeten der natürlichen Ordnung, Nietzsche, ist, so wie für mich, nur mit anderen Vorzeichen, eines klar: Ihr Prediger der Gleichheit, der Tyrannen-Wahnsinn der Ohnmacht schreit also aus euch nach ‚Gleichheit‘[.]
Natürlich ist es, aus dem Blickwinkel des Taktes, vollkommen richtig von der Nichtanpassung an die Welt der Pflanzen mit menschlichem Antlitz als von der Rache der schlecht Weggekommenen zu sprechen. Politische Abstinenz und Tyrannen-Wahnsinn der Weltverleumder sind zwei Sichtweisen auf den selben Gegenstand: die Spannung.

In seiner glühenden Verteidigung des Taktes überschätzt Nietzsche den Handlungsspielraum der Spannungsmenschen maßlos.
Seine ganze, mit allem Nachdruck vorgebrachte Anklage gegen die weltverneinenden Kräfte in Christentum, Sozialismus, Anarchismus und demokratischer Gesinnung hat den Charakter eines Kampfes gegen Windmühlen. In seinem Kampf blieb ihm der eigentliche Taktcharakter vieler von ihm kritisierten Bereiche vollkommen verschlossen. Daher konnte Nietzsche einerseits den in allem intuitiven Übermenschen als letztes Ziel deklarieren, andererseits aber die bewusstlose Herdenmoral seiner Zeitgenossen kritisieren. Ihm war die Determiniertheit alles taktbestimmten Seins wahrscheinlich nicht voll bewusst. Die Unfreiheit des Übermenschen wurde erst von Spengler voll erkannt.

Außerdem wird Nietzsche, so hat man den Eindruck, niemals klar, dass die von ihm gewünschte Welt des Übermenschen, sein Wille zur Macht, aber nur, wenn sie ihm taktvoll zusteht, keine ferne, zukünftige, sondern eine zu allen Zeiten reale Erscheinung ist.

Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch – ein Seil über einem Abgrunde.
Ein gefährliches Hinüber, ein gefährliches Auf-dem-Wege, ein gefährliches Zurückblicken, ein gefährliches Schaudern und Stehenbleiben.

Lasst unsere Spannungsnatur zu einem Abgrund für den Übermenschen, den pflanzenhaft-bewusstlosen, alles bejahenden Taktmenschen in uns werden!


Die Verflüssigung des Selbst

Dieser Text beschäftigt sich mit der Philosophie Ernst Jügers. In ihm wird folgende These vertreten:

Sowohl die Postulate der Philosophie Ernst Jüngers (ausgeführt vor allem in seinem Großessay „Der Arbeiter“ aus dem Jahre 1932, sowie im als Fortsetzung und Gegengewicht zu jenen Werk konzipierten Essay „Der Waldgang“ aus dem Jahre 1951), also: das Ende der bürgerlichen Gesellschaft und die Heraufkunft einer neuen, totalitären Ordnung, als auch seine lebenslange Beschäftigung mit dem Rausch als dem, wie er es nennt, „Ungesonderten“, haben ihren Ursprung in seinen Erfahrungen als Soldat an der Westfront während des Ersten Weltkrieges. Besondere Bedeutung kommt hierbei der von ihm beobachteten und in seinem Erstlingswerk „In Stahlgewittern“ beschriebenen Auflösung des in seinen Formen streng umrissenen und in seiner Integrität unbedrohten Individdums der bürgerlichen Vorkriegswelt im Frontalltag zu.

Ursprünglich als Referat für ein Seminar aus Geschichte konzipiert, durch eine repressive Umgebung jedoch nicht als solches zugelassen, ironischerweise unter Hinweis auf die angeblich das gesamte Werk Jüngers prägende Gewalt- und Autoritätsverherrlichung, muss dieser Text halt hier ein Emigrantendasein fristen.

Der 1895 in Heidelberg geborenen Schriftsteller und Philosoph Ernst Jünger nahm als Kriegsfreiwilliger an den Kampfhandlungen an der Westfront seit 1914 teil. Seine unter dem Namen „In Stahlgewittern“ veröffentlichten Kriegstagebücher machten ihn im Deutschland der Zwanzigerjahre auf einen Schlag berühmt. In weiterer Folge betätigte sich Jünger auch als Essayist und politischer Schriftsteller. Neben vielen Veränderungen in seinem Denken und seiner Beurteilung der politischen und sozialen Verhältnisse, die ihn vom Vertreter der „Konservativen Revolution“ zuerst zum Gegner der Nationalsozialisten, dann, nach dem Krieg, zu einem Vertreter eines konservativ gefärbten Individualanarchismus machten, war eine Konstante seiner Überlegungen immer die von ihm angenommene Auflösung der bürgerlichen Ordnung, die, nach Jünger, zum ersten Mal im und nach dem Ersten Weltkrieg zu Tage trat und die Herausbildung stärker kollektivistischer, auf bewegte Massen und ihre Beeinflussung und auf der Betonung des Arbeitsethos beruhender Ordnungsmodelle. Zuerst von seinen eigenen totalitären Visionen durchaus fasziniert (obwohl er später immer behauptete, er hätte nur vorhandene Entwicklungen neutral beschrieben), war er später durch seine Erfahrung mit der Praxis nationalsozialistischer Herrschaft davon überzeugt, dieser von ihm erkannten Tendenz in geistiger Hinsicht etwas entgegensetzen zu müssen. Stellvertretend für diese beiden Phasen, also die frühere, die von der Auflösung der überkommenen bürgerlichen Ordnung die Heraufkunft einer, ganz gemäß Nietzsche, dem Leben besser entsprechenden Ordnung erhoffte, und die spätere seit den Fünfzigerjahren, die mit der ersteren zwar das Postulat der Heraufkunft einer neuen Ordnung, nicht jedoch die Hoffnungen in sie teilte, sondern in ihrem Zuge eine neue Qualität der Unfreiheit und Entmenschlichung befürchtete, können die beiden Essays „Der Arbeiter“ aus dem Jahre 1932, sowie „Der Waldgang“ aus dem Jahre 1951, ein Manual zur Erhaltung der persönlichen Freiheit in Zeiten des sich entwickelnden Totalitarismus, gelten. In jedem Fall jedoch glaube ich, und möchte diese These im Folgenden auch nachvollziehbar machen, dass die prägenden Erlebnisse Jüngers im Ersten Weltkrieg, die er in „In Stahlgewittern“ verarbeitete, und hier vor allem die Infragestellung der körperlichen Integrität, auf der die Idee des Individuums als Ausgangspunkt des Politischen, des Rechtes, des Gesellschaftlichen naturgemäß fußen muss, sowie sein Erlebnis des Rausches in der Situation des Kampfes als ein unter und hinter dem „principium individuationis“, also dem Beginn des Selbsterlebens eines Lebewesens als etwas vom Rest der Welt geschiedenes, sein Selbsterleben eben als Individuum liegendes, zu seiner grundlegenden Überzeugung des Endes des bürgerlichen Zeitalters und der Heraufkunft von etwas ganz Neuem geführt haben.

Um eine Vorstellung von seinem Schaffen, seiner, wie ich finde, herausragenden Beherrschung der deutschen Sprache, aber auch seinen Thesen zu bekommen, sowie im Besonderen ein Bild vom „Arbeiter“, sowie vom „Waldgang“ zu vermitteln, möchte ich vorab ein paar Passage aus diesen Büchern anführen:

Eines der Mittel zur Vorbereitung eines neuen und kühneren Lebens besteht in der Vernichtung der Wertungen des losgelösten und selbstherrlich gewordenen Geistes, in der Zerstörung der Erziehungsarbeit, die das bürgerliche Zeitalter am Menschen geleistet hat. Damit dies von Grund auf und nicht etwa in der Art einer Reaktion, die die Welt um hundertfünfzig Jahre zurückstellen will, geschehe, ist es nötig, daß man durch diese Schule hindurchgegangen ist. Es kommt nun auf die Erziehung eines Menschenschlages an, der die verzweifelte Gewißheit besitzt, daß die Ansprüche der abstrakten Gerechtigkeit, der freien Forschung, des künstlerischen Gewissens sich auszuweisen haben vor einer höheren Instanz, als sie innerhalb einer Welt der bürgerlichen Freiheit überhaupt wahrgenommen werden kann. Wenn dies zunächst im Denken geschieht, so deshalb, weil der Gegner auf dem Felde seiner Stärke aufzusuchen ist. Die beste Antwort auf den Hochverrat des Geistes gegen das Leben ist der Hochverrat des Geistes gegen den ‚Geist‘; und es gehört zu den hohen und grausamen Genüssen unserer Zeit, an dieser Sprengarbeit beteiligt zu sein. (Der Arbeiter §10; Klett-Cotta 2007: S 42 f)

Dazu kontrastierend einige Sätze aus dem „Waldgang“

Wir leben in Zeiten, in denen ununterbrochen Fragestellende Mächte an uns herantreten. [...] Sie legen nicht auf unsere Lösung, sie legen auf unsere Antwort wert. Das ist ein wichtiger Unterschied, er nähert die Fragen an die Verhöre an. Man wird das an der Entwicklung verfolgen können, die vom Wahlzettel zum Fragebogen führt. [...] Insofern liegen die Dinge klar. Im Maße, in dem die Diktaturen sich entwickeln, ersetzen sie die freien Wahlen durch das Plebiszit. (Der Waldgang §2; Klett-Cotta 2008: S 5 ff)

Sowie über den Charakter der Moderne:

Was die historische Welt angeht, in der wir uns befinden, so gleicht sie einem schnell sich bewegenden Gefährt, das bald Komfort-, bald Schreckenszüge trägt. Bald ist es ‚Titanic‘ und bald Leviathan. Weil das Bewegte die Augen ködert, bleibt den meisten der Schiffsgäste verborgen, daß sie zugleich in einem anderen Reiche weilen, in dem vollkommene Ruhe herrscht. [...] Das zweite Reich ist Hafen, ist Heimat, ist Friede und Sicherheit, die jeder in sich trägt. Wir nennen es den Wald. Seefahrt und Wald [...]. (Waldgang; S 36 f)

Ernst Jünger begann seine Tagebuchaufzeichnungen, die er später zu „In Stahlgewittern“ weiterentwickelte, unmittelbar nach seiner Ankunft an der Westfront. Schon auf den ersten Seiten beschreibt er den Übergang von körperlicher und seelischer Unversehrtheit innerhalb einer Welt, in der, bei in der Regel relativer Gesichertheit der elementaren körperlichen Existenz, das bürgerliche Individuum der Träger von Kultur, Politik und Gesellschaft war, in die Realität des Krieges, der die Soldaten erst auf die elementare Körperlichkeit zurückwarf und schließlich, nach allgemeiner Steigerung der Intensität der Kriegsanstrengungen, den, wie ich ihn im Anschluss an Nietzsche nennen möchte, apollinischen, also streng umrissenen, auch streng von der restlichen Welt abgegrenzten Körper des bürgerlichen Zeitalters vollkommen negierte.

Jünger kommt mit anderen Rekruten an der Front an. Als der Standort seiner Einheit hinter der Front mit Artilleriefeuer belegt wird, erlebte er den von ihm oft beschriebenen Automatismus, den der Krieg im Verhalten der Kämpfer auslöste, zum ersten Mal:

Wir folgten ihrem Beispiel, ohne recht zu wissen, warum. [...]; gleichzeitig ging eine tiefe Veränderung in mir vor. (In Stahlgewittern; Klett-Cotta, 2012 S 8 f)

Den, wie er es später im „Arbeiter“ nannte, „Mobilisierungscharakter“, die Veränderung des Lebens unmittelbar hinter der Front in der Etappe, den die einseitige Orientierung auf die Bedürfnisse des Heeres mit sich brachte und der Jünger, wie ich glaube, maßgeblich zu den Gedanken, die er im „Arbeiter“ ausführte angeregt hat, hält er auf Seite 41 fest, wenn er über ein Dorf hinter der Front schreibt:

So war in einem Jahr aus dem zerfallenen Bauerndörfchen eine Militärstadt wie ein gewaltiger Parasit emporgewachsen. Kaum erkannte man darunter das alte friedliche Bild. Im Dorfteich schwemmten Dragoner ihre Pferde, in den Gärten exerzierte Infanterie, auf der Wiese lagen Soldaten und sonnten sich. Alle Einrichtungen zerfielen, nur was zum Kampf gehörte, war in Schuß. So hatte man Zäune und Hecken niedergebrochen oder zur besseren Verbindung weggerissen, dagegen blinkten an allen Ecken die großen Schilder mit den Fahrtrichtungen. Während die Dächer einstürzten und der Hausrat langsam verheizt wurde, entstanden Fernsprecheinrichtungen und elektrische Leitungen. Von den Kellern aus wurden Stollenschächte in die Erde getrieben, um den Hausbewohnern bei Beschießung sichere Unterkunft zu bieten; die ausgeschachtete Erde wurde achtlos auf die Gärten gehäuft. Im ganzen Dorf gab es keine Grenze und keinen persönlichen Besitz. (In Stahlgewittern; S 41)

Als Jünger bereits Offizier geworden war, beschäftigte ihn offenbar die Distanz und der Gegensatz zwischen den Kämpfern im Schützengraben als, wie ich in Vorausschau auf seine späteren Werke meine, Gestalt einer neuen Zeit und die aus den Stäben nach vorne kommenden technischen Offiziere, die, mit ihrer Professionalität, ihrer Ferne von der die körperliche und seelische Integrität des Einzelnen in Frage stellenden Realität der Schützengräben und ihr Beharren auf Ritualen der Ordnung vor dem Krieg, Vertreter der bürgerlichen, vergangenen Ordnung waren.

In den frühen Morgenstunden tauchten die Stäbe auf und verbreiteten Geschäftigkeit, sehr zum Ärgernis des Frontschweins, das sich nach der letzten Wache gerade zur Ruhe gelegt hat und auf den Schreckensruf: ‚Der Divisionskommandeur ist im Graben!‘ wieder in vorschriftsmäßigem Anzug aus dem Stollen stürzt. Dann kommen die Pionier-, der Grabenbau- und der Entwässerungsoffizier – alle gebärden sich, als ob der Graben nur für ihre Spezialarbeiten geschaffen sei. Wenig freundlich wird der Artilleriebeobachter begrüßt, der Sperrfeuerprobe halten will, denn kaum ist er wieder mit seinem Scherenfernrohr abgezogen, [...] so meldet sich die englische Artillerie und der Infanterist ist immer der Leittragende. Ferner erscheinen die Führer der Vorkommandos und der Schanzabteilungen. Sie setzen sich bis zur Dunkelheit in den Unterstand des Zugführers, trinken Grog, rauchen spielen Polnische Lotterie und machen zuletzt wie die Wanderratten reinen Tisch. Spät geistert ein Männchen durch den Graben, schleicht sich hinter die Posten, schreit ihnen ‚Gasangriff‘ ins Ohr und zählt, wieviel Sekunden das Aufsetzen der Maske in Anspruch nimmt. [...] So ist, wenigstens an ruhigen Tagen, ein ewiges Kommen und Gehen, das dem unglücklichen Stollenbewohner zuletzt den Seufzer entlockt: ‚Wenn es doch nur etwas schießen wollte, damit man seine Ruhe hat.‘ In der Tat tragen ein paar schwere Brocken zur Erhöhung der Gemütlichkeit bei; man ist dann mehr unter sich und bleibt von dem lästigen Papierkram verschont. (In Stahlgewittern; S 56)

Eine Zuspitzung körperlicher Präsenz beschreibt Jünger in einer Episode über eine Erkundung im Niemands- und Feindesland, die er eines nachts, wie damals vielfach üblich, ohne Befehl von oben, sondern aus persönlichem Engagement, worin sich übrigens ebenfalls die Auflösung der Vorkriegsordnung an der Front zeigt, mit einigen Gleichgesinnten aus seiner Einheit unternimmt. Es kommt hier der Bedeutungsgewinn der Körperlichkeit in einer Gefahrensituation, die gleichzeitig nicht, wie etwa die Umstände in später erwähnten Gefechten, von einem ständigen Ausgeliefertsein durch starke, übermächtige äußere, in keinster Weise beeinflussbare Faktoren, beispielsweise schwere Artillerie, bestimmt sind, zum Ausdruck:

Mit kleinem, metallischem Knacks springt die Sicherung der Pistole zurück; ein Ton, der wie ein Messer durch die Nerven geht. Die Zähne knirschen auf der Zündschnur der Handgranate. Der Zusammenprall wird kurz und mörderisch sein. Man zittert unter zwei gewaltigen Gefühlen: der gesteigerten Aufregung des Jägers und der Angst des Wildes. (In Stahlgewittern; S 80)

Zur bildlichen, körperlichen Beschreibung seelischer Vorgänge, wie sie Jünger in seinen späteren Werken meisterhaft beschreiben wird, könnte dieser Satz ein Beispiel sein:

Während die Kugelminen etwas Zerstampfendes hatten, brachten [...] [die zylinderförmigen Minen] eine mehr zerreißende Wirkung auf die Nerven hervor. (In Stahlgewittern; S 85)

Die erste größere Schlacht, an der Jünger teilnahm war die an der Somme im Jahre 1916. Die Materialschlacht, die ihre anonymen Opfer konsumierte und in der unmittelbar danach neue anonyme Massen standen, die verbraucht wurden, die buchstäblich auf den Überresten der Körper ihrer Vorgänger kämpften, verarbeitete Jünger im Abschnitt über diese Schlacht zu eindrucksvollen Bildern:

Hier und dort waren die Postenstände mit Gefallenen bedeckt, und zwischen ihnen, gleichsam aus ihren Körpern hervorgewachsen, stand die neue Ablösung am Gewehr. (In Stahlgewittern; S 95)
Zwischen den lebenden Verteidigern lagen die toten. Beim Ausgraben von Deckungslöchern bemerkten wir, daß sie in Lagen übereinandergeschichtet waren. Eine Kompanie nach der anderen war, dicht gedrängt im Trommelfeuer ausharrend, niedergemäht, dann waren die Leichen durch die von den Geschossen hochgeschleuderten Erdmassen verschüttet worden, und die Ablösung war an den Platz der Gefallenen getreten. Nun war die Reihe an uns. (In Stahlgewittern; S 111)

Es ist bezeichnend, dass gerade in dieser Situation der Auslöschung des Individuums, einerseits natürlich durch seinen Tod am Schlachtfeld, andererseits aber auch im eher metaphysischem Sinne durch die schiere Zahl der Opfer und deren Verlust an Form, an Abgegrenztheit gegenüber dem Außen, ihrer, auch ganz körperlichen, Zersetzung, ihrer Verwesung in den Gräben neben ihren Kameraden, die, abgestumpft wie Maschinen, sich nur noch durch ihre Funktion im Kollektiv, als Soldaten definierten, Jünger das erste Mal vom zweiten großen Thema seines Schaffens, dem Rausch, als elementares Erlebnis des Frontsoldaten berichtet. Der Rausch, in einem seiner späteren Werke, nämlich „Annäherungen. Drogen und Rausch“ als der Zustand des „Ungesonderten“ bezeichnet, ist immer Entgrenzung und damit Auflösung des Ich, ist das Erlebnis des Selbst als ein Teil des Ganzen:

Ab und zu, beim Schein einer Leuchtkugel, sah ich Stahlhelm an Stahlhelm, Klinge an Klinge blinken und wurde von einem Gefühl der Unverletzbarkeit erfüllt. Wir konnten zermalmt, aber niemals besiegt werden. (In Stahlgewittern; S 113)

Eine weitere Form des Verlustes der individuellen rationalen Urteilskraft in der Situation des Gefechtes ist in einer Szene beschrieben, in der Jünger in völliger Erschöpfung auf einer von deutschen Soldaten überfüllten Straße sich in die Etappe zurückzieht:

Den Kopf stumpfsinnig zu Boden gerichtet, schlichen wir, oft von Automobilen oder Munitionskolonnen an die Seite gedrückt, unsere Straße entlang. In krankhafter Überreizung glaubte ich nicht anders, als daß die vorbeirasselnden Fahrzeuge nur uns zum Ärger so scharf am Wegrand fuhren, und überraschte meine Hand mehr als einmal am Pistolenschaft. (In Stahlgewittern; S 116)

Das Zurückgeworfensein des modernen Soldaten im industrialisierten, technisieten Krieg auf eine den Ursprüngen des Menschen näher stehende Stufe als die der bürgerlichen Gesellschaft zeigt sich symbolisch in der für Jüngers Denken so zentralen Gestalt (was bei Jünger so etwas wie ein Archetyp menschlichen Welterlebens bedeutet) des „Frontsoldaten“, der, neben der Gestalt des „Arbeiters“, der die von Jünger postulierte nachbürgerliche Epoche mit ihrer Technisierung und ihrem Akzent auf Konformität und Arbeitsethos, der sich das Individuum unterzuordnen hat, und der Gestalt des „Waldgängers“, der die Gegenbewegung gegen diese Reduzierung des Menschen auf seine soziale und wirtschaftliche Funktion darstellt, die dritte der großen Gestalten ist, die Jünger für unsere Zeit postuliert.

In einer Stelle seiner „Stahlgewitter“, in der er eine Gruppe von Soldaten unmittelbar nach der Schlacht beschreibt (die in den Materialschlachten vor allem ein Messen industrieller Stärke war) und deren Verbundenheit mit der quasi archetypischen Figur des Kriegers er beschwört, tritt die Widersprüchlichkeit von Hypermoderne und ganz Ursprünglichem, die er als Charakteristikum seiner Zeit ansieht, klar zu Tage:

In diesen Männern war ein Element lebendig, das die Wüstheit des Krieges unterstrich und dennoch vergeistigte, die sachliche Freude an der Gefahr, der ritterliche Drang zum Bestehen eines Kampfes. Im Laufe der Jahre schmolz das Feuer ein immer reineres, ein immer kühneres Kriegertum heraus. (In Stahlgewittern; S 158 f)

Wie auch bei dieser Stelle:

Der Aufzug, bei dem sich das Klagen der Gefangenen mit unserem Jubel mischte, hatte etwas Vorzeitliches. Das war kein Krieg mehr; es war ein uraltes Bild. (In Stahlgewittern; S 170)

Stellvertretend für den Generalangriff auf die körperliche Integrität, die der industrialisierte Krieg darstellt, sei eine Stelle zitiert, der man, wie ich glaube, die persönliche Betroffenheit Jüngers anmerkt. Ich habe sie auch deswegen, neben anderen schockierenden Stellen, wie die erwähnte Episode an der Somme, in der Regiment auf Regiment verheizt wird und die Verstärkung buchstäblich auf den toten, weichen Körpern ihrer Kameraden steht, kämpft und stirbt, ausgewählt, weil mit ihr schlüssig der Vorwurf an Jünger widerlegt werden kann, er würde den Krieg verharmlosen oder gar verherrlichen. Der Beschreibung Jüngers fehlt das moralisierende Moment, eben darum wirken seine Beschreibungen auch so beklemmend. Auch in der neutralen Beschreibung der Schrecken, die sich, wie Jünger später im „Arbeiter“ schrieb, in einem moralisch neutralen Raum abspielten, ähnlich wie Verkehrsunfälle, zeichnet sich ein von Jünger angenommendes Charakteristikum der technisierten, kollektivistischen Welt, wie sie Jünger im „Arbeiter“ beschreibt, ab. Persönlich, also als abgeschlossene, eigenständige Entität, emotional betroffen ist der moderne Krieger, die Kampf- und Tötungsmaschine, nur in Ausnahmefällen. Hier deswegen, weil sein Bruder, mit dem er unerwartet an der Front zusammentraf und mit dem ihn ein inniges Verhältnis verband, schwer verwundet wurde. Jünger, der selbst mehrmals verwundet wurde, erlebt zum ersten Mal bei vollem Bewusstsein und quasi als Außenbeobachter die Vorgänge in einem Lazarett in der Etappe:

Mein Bruder lag in einem von Leichengeruch erfüllten Raum inmitten einer Menge ächzender Schwerverwundeter. Ich fand ihn in einer traurigen Verfassung vor. Beim Sturm hatten ihn zwei Schrapnellkugeln getroffen, die eine hatte die Lunge durchschlagen, die andere das rechte Obergelenk zerschmettert. Das Fieber glänzte ihm aus den Augen. (In Stahlgewittern; S 185 f)

Die ständige Gefahr für Leib und Leben sorgte bei vielen Soldaten für Apathie und Gleichgültigkeit dem äußeren Geschehen gegenüber, deren konkreter Ausdruck mitunter bizarre Formen annahm. Es zeigt dies den fortgesetzten Verlust der Sorge um das Wohl des eigenen Körpers, gleichzeitig das sich Ergeben in das Schicksal, den Eintritt in das „Ungesoderte“, den Rausch, der im Folgenden in weiteren Facetten in den „Stahlgewittern“ dargestellt wird und der das zweite große Merkmal der Infragestellung und Auflösung der körperlichen und seelischen Integrität des Individuums ist, die Jünger postulierte. Die konkrete Stelle lautet:

Im Vorbeigehen fragte ich einen fremden Unteroffizier, der im Eingang eines Kellers stand, nach dem Weg. Statt zu antworten, vergrub er seine Hände in den Taschen und zuckte die Achseln. Da ich inmitten der Geschosse keine Zeit zu verlieren hatte, sprang ich auf ihn zu und erzwang mir mittels der ihm unter die Nase gehaltenen Pistole die nötigen Auskünfte. Dies war das erstemal, daß ich im Gefecht einem Manne begegnete, der nicht aus Feigheit, sondern offenbar aus völliger Unlust Schwierigkeiten machte. Obwohl diese Unlust in den letzten Jahren natürlich immer größer und allgemeiner wurde, war ihre Bekundung während der Aktion doch höchst ungewöhnlich, denn die Schlacht bindet, während die Untätigkeit zerstreut. (In Stahlgewittern; S 219)

Das Aufgehen des Einzelnen im Geschehen, das reine Tun, hinter dem, frei nach Nietzsche, kein Sein steht, wird in der Schlacht nur manchmal jäh unterbrochen. Immer dann, wenn der Einzelne auf sich selbst, auf seinen umgrenzten, gesonderten Körper zurückgeworfen wird, beispielsweise bei einer Verwundung, spürt er sich als ein Selbst. Ein kurzer einprägsamer Satz, der, nebenbei gesagt, sicherlich noch durch ein paar Dutzend ähnliche Sätze in den „Stahlgewittern“ ergänzt oder ausgetauscht werden könnte, brachte mich auf diesen Gedanken. In der Hitze des Gefechtes, ein Handgranatengefecht und Nahkontakt mit dem Gegner hinter sich, ändert sich für den Protagonisten des Buches plötzlich die Wahrnehmung:

Mitten in diesem Taumel wurde ich wie durch einen Hammerschlag zu Boden geworfen. Ernüchtert [...]. (In Stahlgewittern; S 243)

Als Finale des Buches angelegt, mit einer Verdichtung der Bilder, einer Beschleunigung der Ereignisse, hat Jünger den Abschnitt über die deutsche Frühjahrsoffensive 1918 angelegt. Neben der vielfachen Bedrohung des Individuums, seiner körperlichen Unversehrtheit vor allem, tritt in den Schilderungen Jüngers hier wiederum auch der bereits oben mehrmals beschriebene andere Aspekt der Auflösung des Individuums, sein Gefühlsüberschwang, sein Verlust der Urteilskraft, der Rausch also, klar zu Tage. Das wichtigste Kennzeichen des Rausches, des „Ungesonderten“, ist die Auflösung der Grenzen zwischen Ich und Nicht-Ich. So steht am Beginn der Beschreibung des Angriffs auf die feindlichen Stellungen, nach dem Erlebnis des ohrenbetäubenden Tommelfeuers der eigenen Artillerie folgender Satz:

Ich empfand die Bedeutung der Stunde, und ich glaube, daß jeder damals das Persönliche sich auflösen fühlte und daß die Furcht ihn verließ. (In Stahlgewittern; S 260)

Aus diesem Gefühl heraus entwickelt sich ein anderes:

Im Vorgehen erfaßte uns ein berserkerhafter Grimm. Der übermächtige Wunsch zu töten beflügelte meine Schritte. Die Wut entpreßte mir bittere Tränen. Der ungeheure Vernichtungswille, der über der Walstatt lastete, verdichtete sich in den Gehirnen und tauchte sie in rote Nebel ein. Wir riefen uns schluchzend und stammelnd abgerissene Sätze zu, und ein unbeteiligter Zuschauer hätte vielleicht glauben können, daß wir von einem Übermaß an Glück ergriffen seien. (In Stahlgewittern; S 261)

Der Rausch, das Dionysische, um ein weiteres Mal Nietzsche zu bemühen, hat in der Situation des Kampfes, in der Verbindung von Hochtechnisierung und archaischem Erbe gesiegt. Über eine Kampfepisode schreibt der ansonsten scharfe Beobachter Jünger:

Es fehlte mir aber für diesen Abschnitt die persönliche Erinnerung. (In Stahlgewittern; S 263)

Ungesondert wie im Rausch wird der Mensch aber auch angesichts des eigenen Todes. Die Alltäglichkeit, Normalität des Sterbens an der Front leistet der Auflösung des Subjekts Vorschub. Das Sterben ohne Schrecken, das sich-in-sein-Schicksal-Fügen, ein Zurückkehren in den Mutterschoß, um ein Bild Camille Paglias zu bemühen, gehört auch zur Auflösung der individuellen Integrität. Es wurde durch die Umstände in den Gräben begünstigt. Eine Stelle aus den „Stahlgewittern“:

Wir setzten uns abwartend auf die Grabensohle und rauchten englische Zigaretten. Ab und zu pfeilten sich gut gezielte Gewehrgranaten herüber. [...] Der Verwundete mit dem Bauchschuss, ein blutjunger Mensch, lag zwischen uns und dehnte sich wohlig wie eine Katze in den warmen Strahlen der untergehenden Sonne. Er schlief mit einem kindlichen Lächeln in den Tod hinüber. (In Stahlgewittern; S 279)

In den Schlachtfeldern an der Westfront ging etwas unter, das ist die These Jüngers im „Arbeiter“, das ist die Grundlage seines „Waldganges“. Ein sterbender britischer Offizier im gestürmten feindlichen Schützengraben hielt dem verdutzen Jünger etwas entgegen:

Mit einem Klagelaut griff er in seine Tasche, aber er zog keine Waffe, sondern ein Lichtbild aus ihr hervor, das er mir vor die Augen hielt. Ich sah ihn darauf, von einer vielköpfigen Familie umgeben, auf einer Terrasse stehen. Das war eine Beschwörung aus einer versunkenen, unglaublich fernen Welt. (In Stahlgewittern; S 262)


Friedrich Georg Jünger – Die Spiele

(Dieser Text entstand als Referat im Rahmen einer Lehrveranstaltung, die sich mit der „Philosophie des Spieles“ beschäftigte. Durch einen glücklichen Zufall wurde mir die Aufgabe zugeteilt, mich ein wenig mit den Gedanken des jüngeren Bruders von Ernst Jünger zu diesem Thema zu beschäftigen. Unverkennbar waren für mich die Parallelen in seinem Buch zur Philosophie Nietzsches, Spenglers und zum Schaffen seines Bruders Ernst.)

Der 1898 in Hannover geborene Friedrich Georg Jünger veröffentlichte im Jahre 1953 ein Buch über das Spiel und seine Bedeutung. Im Folgenden wird auf dieses Werk und seine Thesen eingegangen. In Ansätzen möchte ich kurz auch auf jene Thesen anderer Schriftsteller und Denker z. T. aus dem näheren Umkreis Friedrich Jüngers eingehen, von denen ich vermute, dass sie von Jünger aufgegriffen und weiterentwickelt wurden.

Zunächst einmal gilt es vier grundlegende Begriffe aus den Gedanken Jüngers über das Spiel zu nennen und ihre Bedeutung im Kontext auszuführen:

Diese vier Voraussetzungen müssen vorliegen, um bei einer Tätigkeit von einem Spiel sprechen zu können.

Friedrich Jünger unterteilt die Spiele in drei Kategorien: in Glücksspiele, Geschicklichkeitsspiele und „Vorahmend-nachahmende Spiele“.
Zur „Ahmung“ als zentralen Begriff in Jüngers Buch und zu ihrer über die Theorie des Spieles hinausgehenden, metaphysischen Bedeutung, sowie zu ihr vergleichbaren Modellen bei anderen Autoren möchte ich etwas später etwas sagen.
Zunächst gilt es die beiden von Jünger als Gegensatzpaar eingeführten Begriffe des Glücksspiels und des Geschicklichkeitsspiels zu beleuchten.
Die Bewegung, die das Glücksspiel konstituiert ist eine Bewegung nicht durch den Spieler, sondern zum Spieler. Der Zufall, der, wie der Name schon sagt, dem Spieler „zufällt“, zeichnet das Glücksspiel aus.
Zufall bedeutet, dass es wahrscheinlich ist, dass ein bestimmter Zustand eintritt. Ist das Eintreten eines bestimmten Zustandes unmöglich oder gewiss, so handelt es sich nicht um Zufall. An Unmögliches und Gewisses kann sich kein Glücksspiel knüpfen.
Beginnt der Glücksspieler den Zufall an Zwecke zu binden, dahingehend nämlich, dass er beispielsweise beim Kartenlegen ein zukünftiges Ereignis oder gar eine bestimmte Entscheidung von den zufällig aufgedeckten Karten abhängig macht, so nennt Jünger diese Form des Zufalls einen „gebundenen Zufall“. Ist es dem Kartenleger ernst mit dieser Tätigkeit, glaubt er also an die Vorhersage durch die Karten und betrachtet diese Vorhersage ihrerseits nicht als etwas, das nur in sich Zweck hat, mit anderen Worten: spielt er nicht mit ihr, so hört durch den „gebundenen Zufall“ das Spiel auf.
Die Bewegung, die das Geschicklichkeitsspiel konstituiert ist eine Bewegung des Spielers selbst. Insofern ist das Geschicklichkeitsspiel dem Glücksspiel entgegengesetzt.
Dies verdeutlicht sich im Falschspieler. Durch seinen Versuch den Zufall zu eliminieren, indem er ein wahrscheinlich eintreffendes Ereignis zu einem gewiss eintreffenden macht, verlässt er sich auf seine Geschicklichkeit. Die Bewegung des Zufalls verwandelt sich beim Falschspieler zu einer Bewegung des Spielers. Der Falschspieler ist ein Geschicklichkeitsspieler.
Aus diesem Beispiel wird auch klar, warum für Jünger das Glücksspiel dem Geschicklichkeitsspiel entgegengesetzt ist.
Geschicklichkeit kann trainiert werden. Nicht der Grad der Geschicklichkeit ist ausschlaggebend für die Klassifizierung eines Spieles als Geschicklichkeitsspiel, sondern, dass es auf Geschicklichkeit beruht. Steigert sich der Grad der Geschicklichkeit, kann es notwendig werden, die Geschicklichkeit zu üben. Kommen zum Zweck des Spieles in sich selbst noch andere Zwecke hinzu, wie beispielsweise der Broterwerb beim oben erwähnten Jongleur, so hört das Geschicklichkeitsspiel auf Spiel zu sein. Dies wird durch die zeitaufwändige Übung der Geschicklichkeit begünstigt.

Der Begriff „Ahmung“ als dritte Bewegung, auf die ein Spiel abgestellt sein kann, hat eine Sonderstellung in den Gedanken Jüngers über das Spiel. Er ist weiter gefasst und hat den Charakter eines Prinzips.
Wie bei den Geschicklichkeitsspielen bewegt sich der Spieler bei „vorahmend-nachahmenden“ Spielen selbst.
Betrachtet man sie in Bezug auf das Spiel – und das ist der erste Zugang im Buch – so kann ihre Bedeutung am Beispiel des puppenspielenden Mädchens veranschaulicht werden. Das puppenspielende Mädchen ahmt in seinem Spiel nicht nur das Verhalten der Mutter nach, dessen es durch Anschauung gewahr wird, es ahmt auch sein zukünftiges Verhalten vor. Ahmung hat immer etwas mit Abbildung zu tun. Hierbei ist von Bedeutung, dass sich im Puppenspiel weder das Verhalten der Mutter, noch das zukünftige Verhalten des zur Mutter gewordenen Mädchens eins zu eins, also in Form einer Kopie abbildet. Ahmung bedeutet nicht Imitation.
Hier liegt die Abgrenzung zur Geschicklichkeit. Dies veranschaulicht Jünger an einem anderen Beispiel:
Ein Schuster erwirbt in seiner Lehrzeit mannigfaltige Fähigkeiten im Bereich der Herstellung von Schuhen. Diese Fähigkeiten, dieses Geschick, bildet er durch seine Arbeit immer wieder ab. Dies ist keine Ahmung.
Als er eines abends von seinem Geschäft nach Hause geht, trifft er auf der Straße auf einen gesellschaftlich Höherstehenden und lüftet seinen Hut und erweist damit seinem Gegenüber seine Ehrerbietung (und zwar ohne sich innerlich zu verstellen). Seine Ehrerbietung bildet nicht ein Geschick, eine bloße Fähigkeit ab, sondern ist Abbildung der Ahmung. In diesem Fall bildet sich in seiner Tätigkeit das ab, was Generationen vor ihm auf Grund gesellschaftlicher Regeln ähnlich gehandhabt haben. In dieser Abbildung manifestiert sich die „Kontinuität von Zeit und Raum“, aus der für Jünger die Ahmung hervorgeht.
Würde sich der Schuster nun innerlich verstellen, so würde er nicht die Ahmung abbilden, sondern würde sozial angepasstes Verhalten imitieren, kopieren. Seine Tätigkeit würde auf Geschicklichkeit fußen.
Spiele, die auf der Ahmung fußen sind die vielen Kinderspiele, als deren Beispiel oben das Puppenspiel des Mädchens erwähnt wurde. Wie überhaupt Sozialisation, vom Erlernen von Höflichkeitsformen bis zum Spracherwerb, über Ahmung passiert. Der gesamte Bereich der Sozialisation ist Spiel, weil alle Ahmung zum Spiel taugt.
In Jüngers Ausführungen über die Ahmung glaube ich Parallelen zu einigen anderen Autoren zu erkennen, in dessen Umfeld er sich bewegt hat oder die er rezipiert haben muss.
So erinnert mich die Vorstellung von der Abbildung der Ahmung im Fall des sozial erwünschten Verhaltens des Schusters unwillkürlich an den Begriff der Sitte bei Oswald Spengler. Auch die spengler'sche Sitte fußt auf der Kontinuität von Zeit und Raum. Dahingehend nämlich, dass innerhalb einer bestimmten Kultur ein Verhalten nicht durch die individuelle und bewusste Entscheidung eines Einzelnen, sondern durch ein Spüren, durch „Takt“ wie er es nennt, als sittlich gut erkannt wird.
Auch die Auffassung vom Krieg als Spiel erinnert an das schriftstellerische Schaffen seines älteren Bruders Ernst, der diesen Gedanken mehrfach geäußert hat. Inklusive auch der Kritik des modernen Krieges, dessen Zwecke immer außerhalb seiner liegen würden, der also nicht Selbstzweck, nicht Spiel ist und sich daher auch allen Regeln, beispielsweise denen der Ritterlichkeit entzieht.


Kunst, von außen betrachtet

Folgender Text entstand im Rahmen einer Lehrveranstaltung zu Philosophie und künstlerischer Praxis. Einer der Vortragenden war Christof Šubik, mit dessen Thesen zu Nietzsche und Brecht ich mich vor rund zwei Jahren schon einmal beschäftigte.
Insbesondere im ersten Teil des untenstehenden Textes formuliere ich zum ersten Mal zusammenhängend meine Überlegungen zur Kunst, wie sie schon an anderer Stelle (beispielsweise hier, da, nicht zuletzt da, vor allem aber dort) in meinen Texten kurz aufblitzten.

Bedingt wohl vor allem durch meine Nietzsche-Lektüre – doch mit einigem zeitlichen Abstand zu dieser – dilettiere ich seit einiger Zeit auch in der Entwicklung eigener Gedanken zum Wesen der Kunst.
Eingebettet sind diese Überlegungen in die Vorstellung eines grundsätzlichen Dualismus, der das Mensch-Sein und damit die Welt des Menschen bestimmt. Von meiner Warte aus betrachtet: Dort steht die nackte Wirklichkeit in ihrer Form- und Zeitlosigkeit, ihrer Namenlosigkeit, droht mit ihrer alles Vereinzelte negierenden Macht. Hier steht der Aufstand des Mängelanteils im Mängelwesen Mensch, der sich im Bestreben nach Sicherung der Existenz unterschiedlichst ausformt. Beispielsweise wird der Welt Kausalität unterstellt, werden Modelle in Form des Mythos, der Religion, der Philosophie, der Naturwissenschaft in die Welt getragen, gegen das Chaos des Lebens in Stellung gebracht, um die Wirklichkeit (im oben erwähnten Sinne) zu bannen. Oder es wird das Konzept des statischen, zugleich autonomen Ichs, des Trägers menschlicher Freiheit, gegen die Realität des Ausgeliefertseins jedes Exemplars der Gattung an eben diese entwickelt und – soweit möglich – durchgesetzt. Dort ist ständiges Werden, hier soll das Werden dem Anspruch nach zum Stillstand kommen. Dort ist Wirklichkeit, hier sind Wahrheiten. Dort ist das Leben, hier ist die Kultur.
Das Thema der Kunst sind nicht die verschiedensten Aspekte der Kultur, auch wenn sie selbst der Sphäre der Kultur (wiederum im obigen Sinne) angehört. In ihr geht es nicht primär um religiöse, philosophische, wissenschaftliche oder politische Wahrheiten; und wenn doch – was leider gerade in unserer Zeit oft genug vorkommt – so ist sie, zumindest meiner (wie gesagt dilettantischen) Ansicht nach, wesentlich verfehlt – so wie es verfehlt ist, mit Kanonen auf Spatzen zu schießen.
Denn: wenn alle Mittel der Kultur versagen, wenn sich die formlose Wirklichkeit in all ihrer bedrohlichen Stärke zeigt und alle Prothesen des Mängelwesens Mensch, alle Modelle, alle Vorstellungen eines Sinnes, gar einer Teleologie der Welt, alle Träume vom freien Willen sich als das herausstellen, was sie letztendlich sind – als Ausdruck eines gattungsmäßigen Defizits der Spezies Mensch, als Trotzreaktion eines missratenen Kindes (die uns zugleich natürlich erst zu unserer herausragenden Stellung in der Welt befähigt) – so gelingt es dem Menschen dennoch mit den Mitteln der Kunst, deren Thema die Wirklichkeit, das Leben ist, eben diese zu verfestigen, im Bild zu bannen, in der Plastik zu verdinglichen usw., damit aber zu leisten, was allen anderen Formen von Kultur verwehrt war. Kunst ist die „Ultima Ratio“ der Kultur.
Ich schreibe hin und wieder ganz gerne Gedichte. In zweien versuche ich die obigen Gedanken auszudrücken (und deklassiere sie damit selbst, denn: sie wollen Wahrheiten vermitteln, sind daher „wesentlich verfehlt“). Ich möchte sie an dieser Stelle wiedergeben:

Ölig, fettig schmiert das Blut die Mühle jeder Wirklichkeit
Hass und Liebe schür'n die Glut des Feuers der Titanen
Feste Körper verlässt der Mut, wenn Leben löst Beständ'ges auf
Tiefer See, die in sich ruht, ist jedes Ich ein Wellenschlag
Versmaß, Waffe gegen Wut und Macht der Erde soll es sein
Darum dichtet der nur gut, der Verse schmiedet, Sprache leibt
Mit und gegen Blut und Weib

Das Leben, gebunden im Bild und die Grausamkeit, verharmlost im Schönen
Der begradigte Fluss fließt, wo wir wollen und ist doch Fluss
Und friert der Strom, so formt er sich bleibend für uns
Er reißt uns nicht mehr fort, wir können auf ihm wandeln
Er muss nur ein bisschen sterben, schon sind wir frei
Ultima ratio der halben Götter, der verzweifelten Hasser ist das Gedicht
Und ist eine Kunst

Den Beispielen von Kunstwerken, die sich mir oben aufgedrängt haben, um meine Überlegungen über das Wesen der Kunst verständlich zu machen (also: dem Bild, der Plastik, usw.), eignet, würde ich sagen, Abgeschlossenheit, Ausdehnung, Gegenständlichkeit. Es handelt sich bei den Kunstwerken, deren Eigenheiten meine Überlegungen stützen können, also allesamt um Dinge im buchstäblichen (Plastik) oder im übertragenen Sinn (Bild, Gedicht). Das ist auffällig. Vor allem in Hinblick auf einen der beiden thematischen Schwerpunkte der Lehrveranstaltung drängt sich die Frage auf: Was ist mit der Musik? Passt sie überhaupt in dieses Gedankenmodell zum Wesen der Kunst, wie ich es mir zurechtgelegt habe?
Es ist ein Leichtes, die Musik den „Dingen“ im übertragenen Sinne zuzuordnen. Geradezu naheliegend wird es, wenn man, so wie ich es tue, auch das vorrangig durch Rhythmus und Melodie bestimmte Gedicht in dieser Kategorie verortet. Denn es ist die Form, die sich in jedem Kunstwerk findet – sich finden muss, um ein Kunstwerk zu einem Kunstwerk zu machen – die der Ausweis der „Dinglichkeit“ in Plastik, Bild, Gedicht und eben auch in der Musik ist. Dennoch fehlt die Musik in der obigen Aufzählung und ich glaube auch, dass es keinem Leser eingefallen wäre, sie innerhalb dieser Aufzählung von Mitteln zur Verfestigung der Wirklichkeit mitzudenken. Das mag unterschiedliche Gründe haben. Für die meisten mag Kunst sowieso etwas ganz anderes und meine Gedanken zu ihrem Wesen daher völlig bedeutungslos sein. In meinem Fall sitzt mir wohl der Nietzsche der „Geburt der Tragödie“ im Nacken, dem die Musik etwas unmittelbar zur Wirklichkeit, zum Leben Gehöriges, etwas, wie er sagt, „Dionysisches“ war.
Dionysos – das ist die Personifizierung dessen, was ich oben die form- und zeitlose Wirklichkeit genannt habe. Er ist das Thema der Kunst.
Dionysos – das ist der Schutzheilige, das erwählte Totem eines großen Teils der Menschen, die Kunst machen. Das ist insofern widersprüchlich, als es, würde ihre Kunst nur durch ihn und mit ihm und in ihm sein, stimmiger wäre, sie würden einräumen, dass ihnen ihre Kunst passiert. Doch sie machen Kunst. Sie stellen etwas her. Hängen sie vielleicht einem falschen Glauben an?
„Ultima Ratio“ der Kultur zu sein ist kein besonders schmeichelhaftes Etikett für die Kunst. Der Terminus stammt ursprünglich aus dem politischen Bereich und bezeichnet die Erhaltung einer Friedensordnung durch Krieg. Meine Gedanken sind wohl nicht die Gedanken eines Künstlers. Ein Künstler würde niemals darauf kommen, in seiner (für ihn dionysischen, die Wirklichkeit ausdrückenden) Kunst nur ein Mittel zum Zwecke der Bannung, der Unschädlichmachung der unmittelbaren Kraft des Lebens zu erkennen.
Ich erinnere mich insbesondere an ein Gespräch mit einer Kommilitonin, das ich während einer der Einheiten der LV (nämlich der, in deren Rahmen wir grafische Notationen von Musik durch verschiedenste Instrumente wieder in Klang umzusetzen versuchten und uns mit den Eigenheiten eines Klanggedichtes auseinandersetzten) führte. In mehr oder weniger gedrängter Form warf ich damals meine oben angeführten Behauptungen in die Runde. Im Zusammenhang des gemeinsamen Hörens und Lesens eines Lautgedichtes, in dem uns ja, ganz zwangsläufig, die Form auf Grund einer weitgehenden Inhaltsfreiheit (die keine vollständige ist, denn gerade der Laut bringt das Thema der Kunst – also das Dionysische – potenziell besser auf den Punkt als beispielsweise die erzählte Geschichte) beinahe nackt gegenübertritt, äußerte ich mich wie oben dahingehend, dass ich im Formalen das entscheidende Charakteristikum der Kunst, die Grundbedingung dafür, dass etwas Kunst ist, vermute, als auch, dass die künstlerische Betätigung des Menschen in eine Strategie der Bannung des andrängenden Ungesonderten eingebettet ist und man diese Strategie allgemein als Kultur bezeichnet. Meine Mitstudentin absolvierte vor ihrem Philosophiestudium an der Universität Klagenfurt eine Kunstschule; man kann also sagen, dass sie mehr oder weniger „vom Fach“ ist. Vor allem jedoch ist sie selbst künstlerisch tätig, sieht sich vermutlich auch selbst primär als Künstlerin. Ich erfuhr von ihrer Seite heftigen Widerspruch gegen meine (wie gesagt dilettantischen, da weder durch eine einschlägige Ausbildung, noch durch intensive künstlerische Praxis mitgeprägten) Erklärungsversuche zum Phänomen Kunst. Ich hatte bei dieser Gelegenheit den Eindruck, dass ihr Widerspruch gegen meine Behauptungen weniger durch ihren konkreten Inhalt, als durch ihre Bestimmtheit und Abgeschlossenheit, die sie als apodiktisch erlebte, gereizt wurde. Meine Gegenfrage, wie sie denn über das Wesen der Kunst denke, quittierte sie mit einem Achselzucken. Darüber Aussagen zu treffen sei müßig, sei vielleicht auch anmaßend. Das wurde nicht formuliert, doch es war aus dem Achselzucken zu lesen. Sie hatte recht:
Es liegt, so vermute ich, nahe, die Tätigkeitsfelder von Menschen, deren Profession uns zwar aus eigener Anschauung, doch nicht aus eigener Praxis, also nur aus der Außensicht, bekannt ist, als streng begrenzt, als gut definierbar wahrzunehmen. Das räumt unseren Geist auf, schafft Größen, mit denen gerechnet werden kann. Doch diese begrenzten Größen entsprechen der Lebenswirklichkeit eben jener Menschen nicht oder nur sehr ungenügend. Sie sollten diesen Anspruch auch nicht erheben. Wir sollten uns klar sein, dass es sich dabei um Konstrukte handelt, die ihre Berechtigung ausschließlich aus ihrer Funktion ziehen: Es ist ihre Aufgabe, feste Größen, das heißt, Größen, die dem Werden entzogen sind, zu schaffen.
Man beachte, wie sich der Bogen in Richtung des eingangs erwähnten grundsätzlichen Dualismus wieder schließt. Es ist also gar nicht notwendig, dass sich eine wie immer geartete „Kunsttheorie“ mit der Wirklichkeit der künstlerischen Praxis deckt. Oft genug werden sich beide auch bis hin zum Gegensatz unterscheiden. Ein Gedankengebäude zu bauen liegt mir allerdings näher, als unter freiem Himmel den Unbillen der Wirklichkeit ausgesetzt zu sein. Ich habe mich entschieden.


Der Literat als Handwerker und der Bürger als „blonde Bestie“; Gedanken zu Thomas Manns „Tonio Kröger“

Es war nicht zuletzt die Philosophie Friedrich Nietzsches, die insbesondere den jungen Thomas Mann umtrieb und zu literarischem Schaffen reizte. Der im Anschluss an den sächsischen Pastorensohn entwickelte Widerspruch von „Natur“ und „Kultur“, der so viele der Werke des Sprosses einer lübecker Patrizierfamilie wie ein roter Faden durchzieht (beispielhaft den „Zauberberg“ mit den Figuren Naphta und Settembrini auf der einen, Mynheer Peeperkorn auf der anderen Seite oder mit dem „Schneetraum“) findet sich auch in der frühen Novelle „Tonio Kröger“. Allerdings erscheint er nicht sozusagen in „Reinform“ (also zwar verklausuliert, aber nicht vermischt mit anderen Begriffen) wie im erwähnten Zauberberg, sondern in Verbindung mit anderen, durchaus gegenläufigen Konzepten.

Es soll kurz vorweggenommen werden:
Die unverfälschte „Natur“ (selbst ein doppeldeutiger Begriff, bei Mann aber immer eindeutig und mit dem Begriff „Leben“ gleichzusetzen) und ihre Verkörperungen in ihrer Bedenkenlosigkeit und Lebenstüchtigkeit, auch in ihrer unschuldigen, tänzerischen Brutalität, das also, was bei Nietzsche schon sehr früh mit dem Konzept des „Dionysischen“ umschrieben und später im Konzept des „Übermenschen“ überhöht wird, erscheint im „Tonio Kröger“ in der Maske der „Bürgerlichkeit“.
Alles Gegenläufige zu dieser „Natur“ im Menschen, alles Einzwängen, Aushegen, alles Bannen des Dionysischen durch die Instrumentarien der Kultur hingegen kommt in der Maske des Boheme und der „künstlerischen Existenz“ daher. Gemeinsam ist diesen auf den ersten Blick gegensätzlichen Erscheinungen einerseits der Ordnung durch Kultur und andererseits der künstlerischen Existenz allerdings das „Apollinische“ als das nietzscheanische Gegenprinzip zum Dionysischen.
In unserem Alltagsverständnis hingegen gibt es wohl nichts Gegensätzlicheres als die Ordnungs- und Bannungsinstrumentarien der Zivilisation (als da zum Beispiel sind: gesellschaftliche Konvention und Institutionen wie Ehe und Staat) und dem sprichwörtlich so freien Leben der Künstlerboheme.
Alles Tänzerisch-Dionysische ordnet sich in eben diesem Alltagsverständnis sozusagen „naturgemäß“ der Boheme, alles Ordnungsliebende, Apollinische der Bürgerlichkeit zu.
Aus den beiden gegenläufigen Tendenzen, einerseits der Gegenüberstellung von Kultur und „Natur“ wie sie im „Tonio Kröger“ durch Thomas Mann vorgenommen werden (nämlich verkörpert durch „bürgerlicher“ Lebenstüchtigkeit und künstlerische, das heißt hier: apollinische Strenge) und andererseits unseres Alltagsverständnisses von bürgerlicher bzw. Künstlerexistenz, ergeben sich einige Schwierigkeiten im Freilegen des metaphysischen Grundes, der mutmaßlich allen Werken Thomas Manns zu Grunde liegt: Des Gegensatzes von „Natur“ und Kultur.

Die lebenstüchtige, bedenkenlose und tänzerische „blonde Bestie“ (Thomas Mann selbst gebraucht diese Bezeichnung im Rückblick auf sein Frühwerk, allem voran aber im Rückblick auf den „Tonio Kröger“) begegnet dem Protagonisten am Beginn und am Ende der Erzählung. Beide Male erscheint diese in verdoppelter Gestalt: Hans Hansen und Ingeborg Holm (zwei Verkörperungen des Lebensprinzips bei denen es, wie sich am Ende der Novelle zeigt, weder auf den Namen noch auf die Identität der konkreten Personen ankommt) sind beide Objekte des Begehrens für Tonio Kröger. Doch dieses Begehren ist, trotz aller Anflüge an Homoerotik, die im Werk Thomas Manns immer wieder aufflackern, jeweils ein anderes. Wenn auch beide miteinander auf das engste verknüpft sind:
Der Protagonist möchte – grob gesprochen – so sein wie Hans Hansen (und leidet an dem Wissen, eben nicht so sein zu können). Die Versuche Tonios hingegen Hans zu seiner Art der Existenz zu bekehren, ihn zu sich „herab“ zu ziehen (so in etwa würde das Urteil Nietzsches ausfallen), sind ein erster Aufstand gegen den Instinkt der Verehrung und werden zeitnah bitter bereut.
Dem So-sein-wollen folgt ein anderes Begehren: Der Protagonist begehrt von Ingeborg Holm geliebt zu werden, will sich gerechtfertigt wissen vor dem Leben selbst, dessen Verkörperung sie ist.
Am Ende der Novelle sind Hans Hansen und Ingeborg Holm (als überpersönliche Gestalten, denn es ergibt sich aus dem Text ganz klar, dass es nicht dieselben, Tonio Kröger aus Jungendzeiten bekannten Menschen sind) augenscheinlich ein Paar. Das soll heißen: Die Lebenstüchtigkeit findet zu sich selber, all ihre Erscheinungen stützen und potenzieren sich gegenseitig. Um vom Leben geliebt zu werden will Tonio Kröger sein wie Hans Hansen; um so sein zu können wie Hans Hansen begehrt Tonio Kröger von Ingeborg Holm geliebt zu werden. Beides bleibt ihm verwehrt. Aus der eben beschriebenen Wechselseitigkeit erhellt noch etwas Anderes: Der Protagonist scheint zur Eigenliebe nicht fähig: Weiblicher Widerpart seiner problematischen, zugleich vergeistigten und potenziell kulturell sehr produktiven Existenz ist Magdalena Vermehren. Er vermag sich für sie nicht zu erwärmen, übersieht sie gar und ist ihr nicht einmal sympathisch zugetan. In ihr verachtet er sich selbst.
Große Liebe zu dem, was man nicht ist und große Verachtung für sich selbst, das ist der Schlüssel zu Tonio Krögers Sonderexistenz innerhalb der Gemeinschaft derjenigen, die eben nicht so sind wie Hans Hansen und Ingeborg Holm. Der Held der Erzählung bleibt immer ein sich selbst verachtender Großstadtliterat, der sich nach der Einfachheit der „Natur“ und des (verfänglicherweise so genannten) „bürgerlichen Lebens“ zurücksehnt.

Wie schildert Thomas Mann nun die Künstlerexistenz, die im so krassen Gegensatz zur bewusstlosen und instinktstarken Natürlichkeit der „blonden Bestien“ Hans und Ingeborg steht und zu der Tonio Kröger ein so verwickeltes Verhältnis hat?
Einen Schlüssel hierfür – wie auch für vieles andere – liefert das in etwa in der Mitte der Novelle angesiedelte Kapitel IV:
Adalbert, der Novellist, der die Gespaltenheit seines Kollegen nicht teilt, das heißt: der die „Künstlerexistenz“ im Geiste Manns in reinerer und unverfälschterer Form repräsentiert als Tonio Kröger, flucht der Natur. Er flucht ihren Unwägbarkeiten und den Zwängen, die sie dem Menschen auferlegt. Konkret flucht er dem Frühling, der ihn an seine Kreatürlichkeit erinnert. Das „Kribbeln“, das die „Natur“ in ihm auslöst, hindert ihn daran zu schaffen. Schaffen, das bedeutet für ihn vor allem eines: die Regeln der Kunst bewusst, willkürlich und zielstrebig anzuwenden:

Können Sie einen vernünftigen Gedanken fassen, Kröger, können Sie die kleinste Pointe und Wirkung in Gelassenheit ausarbeiten, wenn es Ihnen auf eine unanständige Weise im Blute kribbelt und eine Menge von unzugehörigen Sensationen Sie beunruhigt [...]?

Man könnte die Passage so deuten: Der Wert des Werkes eines Künstlers bemisst sich an der Meisterschaft der Anwendungen der Regeln der Kunst, auch am Erreichen des gesetzten Zieles. Kunst ist also Verwirklichung eines Planes nach festgesetzten Regeln. Anders gesagt: Kunst ist Handwerk und der Künstler ein Handwerker. Keineswegs bildet sich „Natur“ und die Empfindung, die sie in uns auslöst, in direkter Weise in der Kunst ab oder wird gar durch sie verherrlicht, gerechtfertigt. Diesen Ansatz weist Tonio Kröger (und mit ihm Thomas Mann) ausschließlich dem Dilettanten zu. Nur er glaubt, Empfindungen – und hierbei vorzugsweise hohe und edle – würden zu künstlerischer Betätigung reizen. Hingegen ist eines der Ziele des Künstlers als Handwerker, d.h. des Künstlers sui generis, mit dem ihm zur Verfügung stehenden Instrumentarien seiner Kunst Empfindung auszulösen, also Wirkung zu erzielen unabhängig vom bloßen Rohstoff, den ihm die „Natur“ mit ihren Erscheinungen zur Verfügung stellt. Wie auch der Handwerker, so schafft er eine zweite Natur, die ihm, die auch den Menschen behagt, weil sie menschengemacht ist, anders gesagt: weil sie berechenbar, verstehbar ist und sie zudem die Illusion nährt, über Macht und Kontrolle über die kontingenten Erscheinungen des Lebens zu verfügen. Gerade weil er die Erscheinungen der „Natur“ zum Stoff degradiert und sie sich damit dienstbar macht, schafft er es, sich von ihnen ein Stück weit zu emanzipieren. Das Leben mit all seinen Schrecken wird also in der Kunst einzig und allein dadurch gebannt, dass ihm apollinische Form – ihm, das stets fließt und niemals fassbar ist! – aufgedrängt wird.
Die Sensationen, die sich einstellen, wenn sozusagen die Säfte wieder fließen, sind nicht Grund für künstlerische Höhenflüge, sind nicht Motor des Schaffens, sondern im Gegenteil Störfaktoren und nicht zuletzt schmerzlicher Beweis der eigenen Gebundenheit an das Leben, also an die „Natur“, die zu neutralisieren man als Künstler angetreten ist.

Man muss wohl nicht erwähnen, dass die personifizierte Lebenstüchtigkeit, dass die Hans Hansens und die Ingeborg Holms der Kunst, zumindest wenn sie im gerade ausgeführten Sinne verstanden wird, nicht bedürfen. Sie ist, folgen wir der Sichtweise Thomas Manns im „Tonio Kröger“, eine der vielen Aufstandshaltungen der Schlechtweggekommenen, deren unterster Instinkt Rache ist – um Nietzsche zu zitieren. Hierher passt auch folgender Ausschnitt aus besagtem Kapitel IV:

Zuweilen gerate ich auf irgendein Podium, finde mich in einem Saale Menschen gegenüber, die gekommen sind, mir zuzuhören. Sehen Sie, dann geschieht es, dass ich mich bei einer Umschau im Publikum beobachte, mich ertappe, wie ich heimlich im Auditorium umherspähe, mit der Frage im Herzen, wer es ist, der zu mir kam, wessen Beifall und Dank zu mir dringt, mit wem meine Kunst mir hier eine ideale Vereinigung schaffe... Ich finde nicht, was ich suche, Lisaweta. Ich finde die Herde und Gemeinde, die mir wohlbekannt ist, eine Versammlung von ersten Christen gleichsam: Leute mit ungeschickten Körpern und feinen Seelen, Leute, die immer hinfallen, sozusagen, Sie verstehn mich, und denen die Poesie eine sanfte Rache am Leben ist, – immer nur Leidende und Sehnsüchtige und Arme und niemals jemand von den anderen, den Blauäugigen, Lisaweta, die den Geist nicht nötig haben!

Tonio Kröger teilt die Unbedingtheit Adalberts des Novellisten also nicht. Es drängt sich die Frage auf: Warum nicht?

Vielleicht findet sich hier ein erster Ansatz zur Erklärung der eingangs erwähnten eigenartigen, ja beinahe paradoxen Gleichsetzung von „Natur“, von Lebenstüchtigkeit, von dionysischer, tänzerischer Leichtigkeit und der „Bürgerlichkeit“, die der Künstlerexistenz, d.h. wie man sah: der Existenz des Künstlers als Handwerker, entgegengesetzt wird:
Tonio Krögers Instinktverehrung für Hans und Ingeborg fällt zusammen mit dem Wunsch nach Konformität. Einer Konformität allerdings, die sozusagen eine Ebene unter dem Regelwerk der bürgerlichen Gesellschaft verortet ist: Nicht etwa, dass Tonio Kröger durch sein Handeln die gesellschaftlichen Regeln verletzt hätte. Der Grund seines Außenseiterdaseins liegt nicht in seinen Handlungen, sondern in seinem Sein: Wofür ihn Erwin Jimmerthal – die kleine Bestie – verachtet, wofür ihn Hans Hansen – das edle Tier – bedauert, ist seine abseitige Herkunft, seine „Besonderheit“, wie es ersterer so boshaft ausdrückt. Während den Regeln der bürgerlichen Gesellschaft selbst etwas unbestritten Apollinisches, also etwas vom Aufstand gegen die Natur anhaftet, ist die biologische Herkunft eines Menschen ein wichtiges Symbol und ein schlagender Beweis seiner Verhaftung in der „Natur“: ohne sein Zutun ist er in der einen oder anderen Weise gebunden und festgelegt durch die Zufälligkeit der Geburt. Tonio Kröger zum Beispiel hat südliche Gesichtszüge, ererbt von seiner Mutter.

Rund um dieses Erbteil entwickelt Thomas Mann die Präferenz Tonio Krögers für das „Künstlerische“. Es wäre die offensichtlichste Deutung, aus dem südländischen Erbe und dem immer wiederkehrenden Bild des „Zigeuners im grünen Wagen“ selbst, sozusagen aus seinem stofflichen Gehalt, auf die Unvereinbarkeit Tonio Krögers mit dem „Bürgerlichen“ zu schließen.
Es würde sich jedoch noch eine andere Interpretation anbieten, die in Hinblick auf das bisher Gesagte einiges mehr erhellen würde:
Nicht sozusagen der stoffliche, sondern der strukturelle Gehalt seines südländischen Erbes drängt Tonio Kröger zu seiner Sonderexistenz als Künstler. Die Andersartigkeit als Andersartigkeit, das heißt unabhängig von ihrem konkreten Gehalt, verunmöglicht es dem Protagonisten der Erzählung, als ein Teil der „bürgerlichen Gesellschaft“ seiner Vaterstadt ruhig und sozusagen bewusstlos zu leben, auch wenn sein Wunsch nach Konformität es macht, dass er innig danach verlangt.
Eben diese Andersartigkeit als Andersartigkeit treibt ihn zum Leben im Aufstand, das heißt im Duktus Thomas Manns, es macht ihn zur „künstlerischen Existenz“. Sein Wunsch nach Konformität jedoch treibt ihn einerseits dazu, sich selbst und seinesgleichen zu verachten (wie oben bereits angeklungen) und befeuert andererseits seine Instinktverehrung für das Lebenstüchtige.

Es ist also das Spannungsverhältnis von Instinktverehrung der Lebenstüchtigkeit und erzwungener Andersartigkeit, die sich aus Lebensuntüchtigkeit speist, das die spezielle Situation Tonio Krögers charakterisiert: Sein Aufstand ist höchstens ein halber, niemals ein ganz freiwilliger, sein ganzes Wollen ist auf Konformität gerichtet. Teil der „bürgerlichen Gesellschaft“ zu sein, das heißt für ihn nicht in erster Linie dem Regelwerk dieser Gesellschaft zu folgen, sondern nicht andersartig zu sein. Im Grunde teilt er also die Urteile Jimmerthals und Hansens über ihn. In diesem Sinne ist er Teil des „Bürgertums“ – verstanden aber im ganz speziellen, nur unter den Rahmenbedingungen der Erzählung verständlichen Sinne einer durch das Leben (in diesem Fall durch gleiche Herkunft) determinierten Gruppe von Menschen.
So ist das verfängliche Wort zu verstehen:

Ich habe Ihnen gut zugehört, Tonio, von Anfang bis zu Ende, und ich will Ihnen die Antwort geben, die auf alles paßt, was Sie heute nachmittag gesagt haben, und die die Lösung ist für das Problem, das Sie so sehr beunruhigt hat. Nun also! Die Lösung ist die, daß Sie, wie Sie da sitzen, ganz einfach ein Bürger sind. [...] Sie sind ein Bürger auf Irrwegen, Tonio Kröger, – ein verirrter Bürger.

Zu ihrer „Bürgerlichkeit“ kommen die Repräsentationen der Lebenstüchtigkeit, kommen Hans Hansen, Ingeborg Holm, auch Erwin Jimmerthal sozusagen wie die Jungfrau zum Kind.

Akzeptiert man diese Deutung des Textes, so stellt sich die Frage nach dem Sinn des Verwirrspiels rund um die Doppeldeutigkeit von Begriffen wie „Bürgerlichkeit“ und „künstlerischer Existenz“ wie es Thomas Mann im Tonio Kröger spielt: Warum steht ausgerechnet „Bürgerlichkeit“, ein Wort, dessen Klang in der Regel mit apollinischer Ordnung durch und durch gesättigt ist, für die tänzerische Leichtigkeit und die Grandezza des Übermenschen, der „blonden Bestie“? Warum muss ausgerechnet die in der Fremd- und vor allem der Selbstwahrnehmung ach so nonkonformistische, freie oder ach so liederliche Künstlerboheme als Paradebeispiel für die Durchdringung und Neutralisierung der Grausamkeit und des Chaos der Welt durch apollinische Ordnung herhalten?
Sicher. Vieles ließe sich durch die Biographie des dichtenden Patriziersohnes Thomas Mann erklären. Allem voran natürlich der an der Oberfläche sich darbietende Gegensatz von Bürgerlichkeit und Künstlerexistenz. An der Doppeldeutigkeit der Begriffe muss dieser Ansatz scheitern.
Verhält sich der Autor indifferent zum beschriebenen Widerspruch in seinem Text? Die Akribie in der Behandlung philosophischer Fragestellungen, die man in den Werken Thomas Manns immer spürt, auch die Tatsache, dass man den „Zauberberg“ oder auch schon die „Buddenbrooks“ ohne Weiteres als Thesenliteratur auffassen könnte ohne ihrer Größe irgend einen Abbruch zu tun, lässt dies unwahrscheinlich erscheinen. Die Frage bleibt also: Warum stürzt sich der Autor in die Doppeldeutigkeit von Begriffen wie „Natur“ und „künstlerischer Existenz“?

Im bereits mehrfach erwähnten Kapitel IV sticht ein Satz ins Auge, der zu einer ganz spezifischen, mit der Philosophie Nietzsches aufs engste verbundenen Deutung anregt. Er lautet:

Ich liebe das Leben... Sie lächeln, Lisaweta, und ich weiß, worüber. Aber ich beschwöre Sie, halten Sie es nicht für Literatur, was ich da sage! Denken Sie nicht an Cesare Borgia oder an irgendeine trunkene Philosophie, die ihn auf den Schild erhebt! Er ist mir nichts, dieser Cesare Borgia, ich halte nicht das geringste auf ihn, und ich werde nie und nimmer begreifen, wie man das Außerordentliche und Dämonische als Ideal verehren mag. Nein, das ‚Leben‘, wie es als ewiger Gegensatz dem Geiste und der Kunst gegenübersteht, – nicht als eine Vision von blutiger Größe und wilder Schönheit, nicht als das Ungewöhnliche stellt es uns Ungewöhnlichen sich dar; sondern das Normale, Wohlanständige und Liebenswürdige ist das Reich unserer Sehnsucht, ist das Leben in seiner verführerischen Banalität!

Es scheint sich hier um eine ironische Anspielung auf das Übermenschenkonzept Nietzsches zu handeln. Mehr noch: Das Übermenschenkonzept Nietzsches wird durch Thomas Mann sozusagen modifiziert – und zwar im Sinne einer Demokratisierung:
Nicht die Wenigen, die großen Männer, sondern die vom sächsischen Pastorensohn viel gescholtenen „Viel-zu-Vielen“ sind Träger des Konzeptes. Sie sind tänzerisch, unbekümmert, unschuldig in ihrer Grausamkeit, sie sind lebenstüchtig.

Doch was genau wird hier ironisiert?
Im „Ecce homo“ konkretisiert Nietzsche sein Übermenschenkonzept, bezieht es auf eine bestimmte Persönlichkeit der Geschichte und verwahrt sich damit gegen romantische, idealistische Deutungen seiner Philosophie. Er schreibt:

Wer Etwas von mir verstanden zu haben glaubte, hat sich Etwas aus mir zurecht gemacht, nach seinem Bilde, – nicht selten einen Gegensatz von mir, zum Beispiel einen „Idealisten“ [...]. Das Wort ‚Übermensch‘ zur Bezeichnung eines Typus höchster Wohlgeratenheit, [...] ist fast überall mit voller Unschuld im Sinn derjenigen Werte verstanden worden, deren Gegensatz in der Figur Zarathustras zur Erscheinung gebracht worden ist: will sagen als ‚idealistischer‘ Typus einer höheren Art Mensch, halb ‚Heiliger‘, halb ‚Genie‘ [...] Wem ich ins Ohr flüsterte, er solle sich eher nach einem Cesare Borgia als nach einem Parsifal umsehn, der traute seinen Ohren nicht.

„Trunken“ ist der Autor des „Ecce homo“ allemal. Wer könnte das bestreiten? Man wird den Hans Hansens und Ingeborg Holms aber selbstverständlich auch nicht gerecht, wenn man sie mit Gestalten wie Parsifal identifiziert. Es bleiben Tatsachenmenschen und es werden niemals Heilige aus ihnen.
Versteht man die Novelle nicht zuerst als eine Studie zur „künstlerischen Existenz“, sondern als Versuch der Demokratisierung des nietzscheanischen Übermenschenkonzeptes, so schwächt sich die oben entwickelte innere Widersprüchlichkeit des Begriffs „Bürgertum“ im Tonio Kröger zwar nicht ab, doch sie tritt in den Hintergrund:
Die Vielen, die gewöhnlichen Menschen, die sogenannten „kleinen Leute“ sind als Träger einer starken und ungetrübten „force vitale“ die beste Verkörperung derjenigen Gestalt aus der nietzscheanischen Philosophie, die Nietzsche selbst, trunken, das heißt geblendet von seiner eigenen Rhetorik, nur in den großen Schurken der Geschichte zu erkennen vermochte. Gewöhnlich ist nach landläufiger Meinung vor allem die sogenannte „bürgerliche Existenz“. Noch einmal kann also wiederholt werden: Die personifizierte Lebenstüchtigkeit, Hans Hansen, Ingeborg Holm, kommt zu ihrer Charakterisierung als „Bürger“ wie die sprichwörtliche Jungfrau zum Kind.

Erweist sich die Lebenstüchtigkeit in der bewusstlosen Konformität der glücklichen Bürgerexistenz, so lässt sich ihr Gegensatz am besten anhand des gelebten Nonkonformismus, des bewussten, mehr noch: zum Lebensstil erhobenen Gegensatzes zur Bürgerexistenz darstellen. Gegenfigur des Bürger-Übermenschen ist also die Künstlerboheme.
Ginge es nur um die Demokratisierung des nietzscheanischen Übermenschenkonzeptes, so wäre die Darstellung der Künstlerboheme im Tonio Kröger rein negativ. Das heißt, sie wäre bloße Gegenfigur mit deren Hilfe, quasi über den Kontrast, die These vom Bürger-Übermenschen noch besser würde herausgearbeitet werden können. Doch die Novelle ist eben auch Studie zur „künstlerischen Existenz“, verstanden allerdings in einem ganz spezifischen Sinne:
Der Künstler als Handwerker – man könnte an seiner statt auch den Wissenschaftler, den Priester, den Philosophen nennen, ordnet das Chaos der Welt nach einem bestimmten, ganz strengen Schema, um sich vom Albdruck der eigenen Lebensuntüchtigkeit zu befreien. Seine Lebensuntüchtigkeit macht seine Disposition zur „künstlerischen Existenz“.

Für den Protagonisten jedenfalls wendet sich zum Ende hin vieles zum Guten:
Es gelingt ihm eine Arte Synthese zwischen Instinktverehrung und eigenem Nicht-Dazugehören. In der Festszene, in der vieles aus den ersten Kapiteln wiederkehrt, begegnet Tonio Kröger nicht nur den überpersönlichen Verkörperungen des Bürger-Übermenschen, Hans Hansen und Ingeborg Holm, wieder, sondern er trifft auch erneut auf sein ebenfalls überpersönliches weibliches Alter Ego: Magdalena Vermehren. Diesmal allerdings ist sein Verhalten nicht durch bloße Missachtung gekennzeichnet. Er rät ihr, die so unbeholfen ist im Tanzen – das heißt nichts Tänzerisches, also Lebenstüchtiges an sich hat, eben nicht mehr zu tanzen. Das könnte heißen: Er kommt zur Akzeptanz der Andersartigkeit bei seinesgleichen und bei sich, ohne jedoch die Liebe zu den wohlgeratenen und lebenstüchtigen Geschöpfen mit den blonden Haaren aufzugeben.


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