Balken und Splitter



  1. unschuldig morden |
  2. Zurück zur Natur |
  3. Von Weibern und Frauen |
  4. Das Gehege der Freiheit |

unschuldig morden

  1. eins |
  2. zwei |

Zurück zur Natur

  1. eins |
  2. zwei |
  3. drei |
  4. vier |

Von Weibern und Frauen

  1. eins |
  2. zwei |
  3. drei |
  4. vier |
  5. fünf |
  6. sechs |
  7. sieben |
  8. acht |
  9. neun |

Das Gehege der Freiheit

  1. zwölf |


unschuldig morden

eins

Vom Vordränger:
Es fällt ihm gar nicht auf. Es ist das Selbstverständlichste von der Welt. Es kommt ihm gar nicht zu Bewusstsein. Er stellt sich in der Schlange neben mich, dann vor mich, bestellt, wird widerspruchslos bedient. Keine Bosna für mich. Na und?
Die Phänomene der Kultur abgerechnet bedeutet das aber: Der Lebensuntüchtige wird von der Futterstelle verdrängt, d.h. dem Verhungern preisgegeben.
Ich stelle mich neben ihn, warte auf eine Gelegenheit, ihn in der Art des Thersites, dieser legndären Inkarnation des priesterlichen Aufstandes gegen das gattungsmäßig Gegebene, ironisch-bissig von der Seite anzureden – es findet sich keine. Im Sinne der Gattug ist meine Unfähigkeit zur Erwiderung eine Bestätigung der Rechtmäßigkit meiner symbolischen Tötung durch ihn; sowie auch ein Ausweis der Effizienz der Gattung: Alles gelingt, ohne unnötig Energie in physische oder verbale Gewalt stecken zu müssen.
Man komme mir nicht damit, dass ihm und dem Verkäufer nicht zu Bewusstsein kam, was sie taten, es für sie auch nebensächlich wäre, würden sie es bewusst wahrnehmen. Gerade diese gattungsmäßige Bewusstlosigkeit und Selbstverständlichkeit ist der Ausweis ihres unschuldigen Mordens.

zwei

Das Opferlamm als Schlächter:
Furcht treibt das arme, unschuldige Wesen an, das mir gerade in einer einsamen Seitengasse begegnet ist; Furcht vor mir, dem Lebensuntüchtigen, Schlechten und daher Bösen. Sie flüchtet, sie trampelt mit den Füßen.
Furcht – eine elementare Emotion, eine animalische Macht: Sie führt zur Flucht oder zum Angriff.
Das zarte Weib, das da seinen Schritt beschleunigt, sich unauffällig umdreht; wäre es nicht zart, es würde mich zertrampeln in seiner Furcht, es würde, als ein bewusstloses Instrument der Gattung, den Lebensuntüchtigen, Schlechten zermalmen.
Doch andererseits: Wäre es nicht Weib, die Chancen stünden gut, dass es mir nicht als elementare Kraft des Niedertrampelns, sondern als Mensch begegnen würde. Es würden sich zwei Ebenbilder Gottes in die Augen sehen, nicht zwei Tiere fürchten und hassen.


Zurück zur Natur

eins

Einer ist Beute. Ein geborenes Opfer der nackten Wirklichkeit des Lebens. Er ist schwach, krank, hässlich, dumm; ein Ärgernis, aufreizend zur Gewalt gegen ihn. Gerade er träumt von urtümlicher Harmonie mit der großen Mutter, sehnt sich nach einem vegetativen Idyll; gerade er will zurück zu sogenannten „Natur“.
Solche Fälle – die keineswegs die Ausnahme sind – habe ich immer vor Augen, wenn ich in meinen Texten über die priesterliche Instinktlosigkeit als eine Art „verunglückter Priesterlichkeit“ spreche.
Es scheint mir hinter dem Phänomen der Wunsch nach Selbstauslöschung zu stehen. —
Doch vielleicht zeigt sich gerade in diesem Wunsch eine tiefere Instinktsicherheit, die, benannt oder nicht, zu fürchten und zu verachten mir meine Priesterlichkeit befehlen muss.

zwei

Es ist ein Grundsatz des sich des Wesens seiner Priesterlichkeit bewussten Priesterlings – es ist mein Grundsatz, der eigenen Vernichtung und all ihren Phänomenen niemals Beifall zu klatschen.
Dieses Beifallklatschen ist jene oben erwähnte unbewusste und uneingestandene Instinktsicherheit, die der Instinktlosigkeit des priesterlichen „Naturromantikers“ zugrunde liegt, ihr unterirdisches, chthonisches Fundament.

drei

In der Tragödie – das ist nach Nietzsche: in der Tröstung des Schmerzes, den die Vernichtung der Einzelexistenz auslöst, durch die Zelebration der Unüberwindlichkeit des Lebens, des Ungesonderten, der Gattung, die sich gerade in dieser Vernichtung manifestiert – zeigt sich ohne Zweifel Größe.
Größe allerdings nur im Sinne der Gattung, nicht im Sinne der Priesterlichkeit. Der Adel der tragischen Existenz geht dem „Naturromantiker“ als priesterlicher Gestalt ab.
Er glaubt sich am Ungesonderten berauschen zu können, ohne den Preis dafür zahlen zu müssen. Ja, er weiß vordergründig gar nichts von diesem Preis.

vier

Siegt der Aufstand der Kultur scheinbar über die rohe Gattung und scheint der Mensch aus der „Natur“ herauszufallen, wie der dies in unserer Zeit zu tun meint, so vernebelt sich der Sinn der Menschen für die elementare Schrecklichkeit des Ungesonderten. Dieser Sinn, den rauhere Geschlechter immer hatten und der immer wiederkehren wird, wenn das schützende Gebäude der Zivilisation zusammenbricht, ist der beste Schutz gegen die Selbstvernichtungstendenzen der „Natur“-Romantik.
Das heißt aber auch: Erst der Optimismus des rationalen, aufgeklärten, auch des technischen Zeitalters – dessen Protagonisten irrtümlich glauben, die „Natur“ zähmen zu können und die ihre Wahrheiten mit der gattungsmäßigen Wirklichkeit verwechseln – schafft die Voraussetzung für das „Zurück-zur-Natur“.
Die Naturromantik, diese trügerisch schöne, zugleich giftige Blume, diese Negation der Kultur auf der Grundlage der Überschätzung ihrer Möglichkeiten: sie wächst – wie Hannah Arendt richtig bemerkte – auf Asphalt.


Von Weibern und Frauen

eins

Es droht die Mutter Erde ständig alles vereinzelte, sich zwischen Mutterschoß und Grab – diesen beiden Emanationen des ewig Weiblichen – ausformende, sich eine Form gebende, gesonderte Sein wieder aufzulösen in ihrem Lebensbrei, es zu verflüssigen zu einem formlosen Alles.
Die große Mutter ist die wirkliche Herrscherin der Welt. Die Menschen sind ihre Kinder. Die Großtuer jeder Form und Farbe, vor allem aber die Priesterlinge, seien sie Religionsstifter, Philosophen, Wissenschaftler, sind ihre missratenen, trotzigen, aufständischen Kinder.

zwei

In der Sphäre der unumschränkten Herrschaft der großen Mutter, die sich aus ihrer naturwüchsigen Macht speist und die zu allen Zeiten unter der Oberfläche der Formen der Priesterlichkeit – beispielsweise des „Patriarchats“ – wabert und ständig droht, diese wieder zu verschlucken, rechtfertigt sich die Existenz des Einzelnen, sei er nun Weib oder Nicht-Weib, nur durch seine Funktion innerhalb der letztendlich vegetativen Prozesse des Gattungslebens der zoologischen Spezies „Mensch“.
Die einseitige, nur partikuläre und temporäre Funktion der Nicht-Weiber im Reproduktionsprozess der Gattung begründet in der Sphäre des Ungesonderten – also Ganzheitlichen – ihre Marginalität.
Schon im in Hinblick auf die Ganzheitlichkeit der gattungsmäßigen Prozesse defizitären Charakter der Nicht-Weiber, der eben in ihrer Einseitigkeit und Partikularität begründet liegt, wie auch in ihrer daraus resultierenden Marginalität, ist die Sonderung und Vereinzelung bzw. die Aufstandshaltung des Einzelnen gegen die Gattung, das ist: die Priesterlichkeit, angelegt.

drei

Aus der Disposition der Nicht-Weiber zur Priesterlichkeit, die in ihrem im ganzheitlichen, gattungsmäßigen Sinne defizitären Wesen angelegt ist, ergibt sich der wesentlich nicht-weibliche Charakter der Phänomene der Priesterlichkeit, die unter dem Begriff Kultur zusammengefasst werden können.

vier

Der Aufstand gegen das Ungesonderte durch die Priesterlichkeit und ihre Phänomene findet seinen Niederschlag auch in der Umkehrung der Wertigkeiten. Sie drückt sich aus in der Verschiebung des Maßes:
Nicht mehr das Wasser des ungesonderten Lebens und die jeweilige individuell-zufällige Welle an seiner Oberfläche – das konkrete Weib – sind die Bezugspunkte des priesterlichen Welterlebens, sondern die individuelle Ausformung der Sonderung – das Objekt und die Person – und mit ihr ihr Träger – das Nicht-Weib.
Diese vollständige Umkehr der Werte und des Maßes durch den priesterlichen Anteil des Mensch-Seins sei im Text versinnbildlicht durch den Austausch der Begriffe: aus dem negativ-defizitären Begrff des „Nicht-Weibs“ wird der des „freien Mannes“, der sich, das selbe wie „Nicht-Weib“ bezeichnend, nur durch seinen positiv-wertsetzenden Charakter vom negativen des ersteren Begriffes unterscheidet.

fünf

Der Aufstand der „freien Männer“ sucht sich – eingedenk seiner stets prekären Lage – gegen eine übermächtige und feindliche Welt, gegen die Gattung abzusichern.
Es ist wohl diesem Sicherheitsbedürfnis geschuldet, dass der Priesterlichkeit die Tendenz zur Universalität, also zum Anspruch auf vollkommene Durchdringung der Welt innewohnt.
Gemäß dieser Tendenz muss die wesentlich gattungsmäßige Gestalt des Weibes als Versinnbildlichung des Allumfassenden ein vorrangiges Ziel der Umwertung – mit priesterlichen Mitteln; also: der Umdeutung – sein.

sechs

(Nebenbei bemerkt liegt in der Universalisierungstendenz der Priesterlichkeit der Keim ihres vollständigen, wesentlichen Scheiterns, ihres „Verunglückens“:
Ihre Triumphe kippen immer dann in Niederlagen, wenn sie ihren Anspruch auf Universalität mit wirklicher Universalität verwechselt, d.h. ihren wesentlich aufständischen, negativen Charakter verleugnet.)

sieben

Die Umwertung des Nicht-Weibes zum freien Manne zieht in ihrem Bestreben nach Absicherung gegen die Welt also eine zweite Umwertung nach sich.
Im Gegensatz zu jener beschreibt sie nicht bloß eine Umkehr der Wertigkeiten bei gleichbleibendem Inhalt der beiden Begriffe, sondern wendet das Ideal des freien Mannes auf die Nicht-Männer an:
Aus dem Weib als der Verkörperung des Ungesonderten wird unter dem Einfluss des Universalisierungsstrebens der aufständischen Priesterlichkeit die durch Würde und Integrität der Person charaktersierte „hohe Frau“. Sie ist das Spiegelbild des freien Mannes. Sie ist auch die symbolische Überwindung der Gattung durch die Verleugnung des ewig-Weiblichen.

acht

Was aber ergibt sich konkret aus der Anwendung des Wertekanons des Aufstands gegen das Prinzip des ewig-Weiblichen auf die Einzelemanationen eben dieses Prinzips?
Zum Beispiel die rechtliche Gleichstellung der Frauen. Zum Beispiel das Frauenwahlrecht. Zum Beispiel die Eroberung von sogenannten „Männerbastionen“ innerhalb der Berufswelt durch Frauen, die „ihren Mann stehen“.
Dies alles markiert den ultimativen Siegeszug des ressentimentgeladenen Aufstandes der gattungsmäßig defizitären Nicht-Weiber gegen das ewig-Weibliche; es ist die letzte und edelste Konsequenz des heute allseits geschmähten „Patriarchats“; es ist seine Vollendung.

neun

Wenn es wirklich stimmen sollte – wie ich glaube, dass das Mensch-Sein eng an das Konzept des freien, abgegrenzten und unabhängigen Einzelnen gebunden ist, dann bedeutet der Archetyp Mutter nichts weniger als die direkte Negation eben dieses Mensch-Seins:
Das Kind der Mutter ist an sie gebunden, ist ursprünglich verhaftet in ihr und wird erst Jemand durch Überwindung der ursprünglichen Einheit. Der Schoß markiert die Grenze zwischen bloßem Leben in seiner ganzen Ungesondertheit und der Potenz zur priesterlichen Vereinzelung, die im Menschen hinzutreten muss, um ihn zu konstituieren. Hierbei ähnelt der Schoß der Mutter dem Grab, das – auch ein Grenzpunkt – den Einzelnen wieder eintauchen macht in das Ungesonderte, in den Kreislauf des bloßen Lebens, dessen Wesen in der ständigen Vernichtung von Lebendigem besteht.


Das Gehege der Freiheit

zwölf

Die kalte, die blutleere, die lebensfeindliche, die kranke Kultur: sie ist nicht Fessel, sondern Bedingung jeder menschlichen Freiheit.


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